Montag, 20. Juni 2016

Ich will weg hier! Oder: Eine Ode an das Fernweh

Ich kann nicht mehr sitzen, nicht mehr lesen, nicht mehr denken. Sitze in diesem Lesesaal, das harte Holz des unbequemen Stuhls drückt gegen meinen Rücken. Die Buchstaben, kreuz und queer farbig bunt markiert, verschwimmen vor meinen Augen und beginnen zu flimmern, wie Diskolichter, die selbst Lust auf Party haben. Und mein Kopf ist voll, dröhnt, hämmernde Gedanken, die wie eine zähe, bleierne Masse zum Stillstand gekommen sind. Also würde ich ununterbrochen gegen den Betonpfeiler vor mir rennen, der mir gnädigerweise die Sicht aufs Fenster und damit auf die draußen scheinende Sonne versperrt. Habe mich eingesperrt, so aber nicht meine Gedanken. Die lassen sich nicht einsperren, müsste ich doch wissen.

Ich denke mich weg, in seine Arme, oder nein, lieber nicht. Ich denke mich weg, an einen Ort, der mir so vertraut ist wie der Geruch meines Lieblingskaffees, ein Ort, an dem die frische, klare Luft mir nicht nur die Haare ins Gesicht pustet, sondern auch träge Gedanken vertreibt. Ein Ort, an dem man das Salz in der Luft schmecken kann, Kindheitserinnerungen an jeder Ecke findet und die Freiheit auf der Zunge trägt. Diese kleine Nordseeinsel. Ich sehe mich gerade da, neben dem Elefanten-Klettergerüst, wie ich im Sand sitze, barfuß, Schuhe brauche ich nicht, das Telefon im Sand vergraben, muss hier ja nichts haben…schaue aufs Meer und sehe den Wellen zu, wie sie an meinen Zehen knabbern, wie die Ebbe die Flut ablöst und die Flut die Ebbe und alles zusammenpasst. Ich will weg hier. Ich will wieder an die Nordsee. Ich muss jetzt leider weiterschreiben, nicht an diesem Roman, nein, zuerst mal an meiner Bachelorarbeit. Ich träume einfach viel zu gern, träume mich weg.


Ich atme tief durch, tanke den abgestandenen Sauerstoff in diesem Raum, setze mich kerzengerade hin und starre angestrengt auf mein bisher eher dürftiges Werk. Na komm schon Jule, konzentrier‘ dich, du bist die einzige, die unproduktiv ist. Denke es und lasse meinen Blick durch den Lesesaal schweifen. Angestrengte Gesichter, gerunzelte Stirnfalten und Köpfe, über Riesenwälzer gebeugt. Komisch, dass noch kein Qualm zu sehen ist. Wieso auch muss ich den Lesesaal Recht als mein Wohnzimmer auserwählen, nur fleißige Juristen hier. Wo die wohl herkommen, was die wohl erlebt haben, wo die wohl hinwollen…ich höre geflüsterte spanische Wortfetzen hinter mir und muss unwillkürlich an das verregnete Sevilla denken, an Fußbäder, an Tapas, an Orangenbäume…qué pena, dass ich jetzt nicht einfach viva la vida kann. Ich runzele ebenfalls die Stirn, schließe entschlossen den Ordner, in dem sich die ganzen, mit Erinnerungen an andere Orte vollgeladenen Bilder befinden und mache mich wieder an die Arbeit. Wie viel Uhr ist denn? 16:34 Uhr…20.Juni…Oh, schon bald Ende Juni…oh, schon bald fliege ich.

Endlich, endlich weg hier! Ungeduldig rutsche ich auf meinem Stuhl hin und her, der nicht bequemer werden will. Ich will, ich will weg hier! Weg von dem Stress, dem täglichen Alltagstrott, den Leuten hier, von denen viele in ihrer Sichtweise so eingeschränkt, in ihrer Meinung so festgefahren sind. Flucht. Flucht nach vorne, Alltagsflucht. Ich habe mich gefragt, ob ich mit meiner Reiselust denn vor etwas weglaufen will. Ob es mir hier nicht gut geht, etwas schief läuft in meinem Leben. Aber nein, es passt alles, alles ist an seinem Ort, nur ich bin nicht an meinem Ort. Denn ich habe keinen, will keinen haben. Es läuft alles, läuft alles gut, läuft in geregelten Bahnen. Und ich will eben ab und an und eigentlich manchmal auch oft daraus ausbrechen. Will Loopings und Hopser und durchgeschüttelt werden. Ich hasse Achterbahn fahren, mag auch keine krassen anderen Fahrgeschäfte, ich mag jedoch Kulturschocks. Ich mag es, irritiert zu sein, weil ich das Verhalten anderer Menschen nicht verstehe. Mag es, neue Traditionen und Sitten zu entdecken, neue Sprachen zu lernen. Ich mag es, eine andere Welt kennenzulernen, unsere Welt, meine Welt anders zu sehen. Und mich dann wieder neu einordnen zu müssen, neu zurechtfinden, in dem, was zuvor vertraut war. Das kann anstrengend sein, ist gleichzeitig unglaublich bereichernd. Horizont erweiternd.


Das ist das Problem mit dem Reisen. Es macht süchtig. Und ich bin gerade auf Entzug und leide. Aber nicht mehr lange, dann bin ich wieder weg! Und bis dahin tun es auch diese kleinen Alltagsträume, in denen ich mal wieder an der Nordsee bin…und wo treibst bzw. träumst du dich rum? :)


Jule

Mittwoch, 1. Juni 2016

Bunte Kiste: Mai 2016

Atemnot und Stillstand. Leerlauf und laufen lernen, laufen lassen. Stop-Taste, Pause, nie wieder Repeat. Diesunddasananas.


Gefreut über: Krankenbesuche, Tulpen und andere Blumen, so viel Hilfsbereitschaft, Düfte, Gerüche und meinen Geschmackssinn, DVD- und Film-Abende, Deluxe-Salat und Pseudo-Steaks, ein interessantes Seminar, mein Thema, gelatinefreie Gummibärchen, illegalen Sport, ein wenig mehr Symmetrie, ganz viel Sonne und Musik und Seifenblasen und Leichtigkeit. Festivalstimmung.

Geärgert über: mein Immunsystem, Busfahrten und Enttäuschung

Auszüge aus meinem Tagebuch:

"Ja, ich weiß auch nicht, was das soll. Ich glaube, es kann gar nicht mehr anders als oberflächlich sein. Alles andere geht nicht mehr, oder? Alles andere war doch so viel wertvoller."

"Wir setzen künstliche Filter, an den unterschiedlichsten Stellen, um uns irgendwie entscheiden zu können. Qual der Wahl, Übermaß an Möglichkeiten. Zu viel, zu schnell, zu gut geht es uns."

"Wie viel Kontrolle tut mir, tut dir, tut uns gut?"

"Da werde ich einfach als Weltverbesserin bezeichnet. Uh, ganz schön viel Verantwortung."

"Ich mag keine halbe Sachen. Entweder ganz oder gar nicht. Aber muss ich wirklich komplett geflasht sein, um mich dafür entscheiden zu können? Muss ich erst etwas, muss ich ihn erst hassen, um mich umdrehen zu können? Muss erst etwas, muss ich ihn erst lieben, um mich darauf einlassen zu können? Es ist nicht alles Schwarz und Weiß. Das Leben ist grau. Und bunt. Und manchmal nur grau, manchmal nur bunt und manchmal alles zusammen. Und dann ist es eben diese komische Mischfarbe, deren Elemente ich nicht mehr ausmachen kann und dann sollte ich diese Versuche alles zu ordnen eben lassen und mich mit dieser Mischfarbe anfreunden. Sieht vielleicht seltsam aus, schmeckt aber eigentlich ganz gut. Schmeckt eigentlich ziemlich geil. Schokolade ist ja auch braun."

"Vermutlich sollte ich aufhören, mir Dinge vorzustellen, auszumalen, mit Buntstiften. In meiner Fantasie leuchten die Farben irgendwie heller, in echt war dieses Wiedersehen doch irgendwie ernüchternd. Blass und verwaschen, vom Regen und allem, was die Realität hässlich macht."

"Vielleicht red‘ ich mir inzwischen nur ein niemanden zu brauchen aus Angst, wieder einmal zu merken, dass niemand zu mir passt oder vielmehr ich zu niemandem passe. Stehe wieder am Rand, beobachte, gehöre nicht dazu. Außenseiterin,  Einzelkämpferin, Gegenstromläuferin. Bin überall dabei und bin es nicht. Gehöre zu ihm, zu ihr, zu ihnen und tue es nicht. Und das ist nicht einmal meine Intention, das passiert automatisch, das war schon immer so. Und frage mich, warum ich mich nie zugehörig fühle, weder einem Ort, noch einer Gruppe, erst recht nicht einem Menschen."

"Gib‘ mir ein bisschen Sonne, ein bisschen Bier und den richtigen Beat, dann werd‘ ich übermütig. :)"

"Vielleicht sollte man manches einfach nicht ausreizen. Vielleicht lieber manches offen stehen lassen, mit Fragezeichen und Platz für Hypothesen."

"Und schon wieder. Die Realität war farbloser als meine Tagträume dazu. Sind das nur meine zu festen, zu hohen Erwartungen?"

"Das ist wohl passiert, weil ich wollte, dass es passiert. Ich weiß, was ich will und wie ich es bekomme, meistens. Das hat sich aber so angefühlt, als würde ich das wilde Leben in eine vorgefertigte, betonierte, gerade Bahn zwängen wollen. Weil ich wollte, dass es genau so verläuft und genau so hat es sich dann nicht mehr passend angefühlt. Wäre es besser gewesen, ich hätte nichts gewollt und nichts versucht und nichts wäre passiert?"

„Jule, du bist so blöd.“ – „Ich weiß. Du bist auch nicht besser.“ Wir schauen uns an und müssen lachen, so lange, bis sich die Dummheiten der letzten Nacht nicht mehr so dumm anfühlen und der verrückte Leichtsinn, der uns beide manchmal packt, alles zu rechtfertigen scheint. Immerhin wird uns so nicht langweilig, immerhin spielen wir so nicht immer in diesem System mit, brechen manchmal aus, sind ein wenig wagemutig und überdreht und übermütig. Sind hoffentlich nicht gänzlich unverbesserlich. ;)


Und der Juni?


Ich freue mich auf: Sommersprossen, Sommerregen, Sommersonnenlaune. Auf ziemlich viele Wiedersehen und Städtetrips, kleiner werdende Bücherberge, Cocktails, Campusfest, legalen Sport und durchtanzte Nächte

Jule

Freitag, 20. Mai 2016

Entscheide dich!!! Oder: Was wollen wir eigentlich?

Was machst du heute Abend? – Weiß noch nicht, mal schauen. Je nachdem, wonach mir ist. Entscheide ich spontan.

Festlegen, für was?

Kommst du in drei Wochen mit aufs Konzert von abc? – Weiß noch nicht, mal schauen. Da wäre eigentlich noch die Party von xyz und eigentlich wollte ich noch neue Städte erkunden und eigentlich wollte ich sparen…kann ich das spontan entscheiden?

Festlegen, für wen?

Und dann, dann bist du fertig, Bachelor. Was willst du  machen? – Hm, gute Frage. Erstmal reisen und vielleicht arbeiten, vielleicht ein Praktikum. Mal schauen, was sich so ergibt eben.

Festlegen, wozu?

Ist das euer, ist das unser Ernst?

Niemand kann, niemand will sich festlegen. Treffen auszumachen wird immer schwieriger, immer schwieriger zu planen. Für jemanden, der gerne plant, fällt das natürlich sofort auf, wird das natürlich kompliziert. Aber auch für alle anderen. Auch wenn es praktisch ist, sich im letzten Moment für oder gegen etwas oder für etwas ganz anderes entscheiden zu können, für alle anderen ist es ziemlich anstrengend. Kann man auf dich zählen? Kann man dich mit einplanen? Sollte man sich Zeit freihalten?

Ich will mir nicht ein ganzes Wochenende freihalten, nur damit wir uns an einem Abend eventuell ganz vielleicht spontan sehen können. Ich will nicht auf deinen Anruf warten, der dann kommt, wenn es dir gerade passt. Ich will auch nicht jeden Tag, jede Stunde meines Lebens durchplanen. Aber ich will ein bisschen Beständigkeit und ein wenig Zuverlässigkeit und merke gleichzeitig, dass mir selbst das immer schwerer fällt.

Was, wenn sich mir im letzten Moment eine viel bessere Option bietet? Wenn ich dann schon anderweitig zugesagt habe? Etwas verpasse?
Was, wenn ich ihr zusage, er dann aber doch Zeit hat? Will ich ihn nicht so viel lieber sehen? Aber will ich ernsthaft auf ihn warten?

Was willst du eigentlich?

Das ist wohl die wichtigste Frage. Ich will reisen, etwas von der Welt sehen, Berufserfahrung sammeln, etwas Geld verdienen, ich will all‘ das und noch viel mehr, am besten auf einmal. Zu viel? Vielleicht ja nicht, vielleicht lässt sich das alles kombinieren, aber dafür muss ich planen, überlegen, etwas tun. Mich bewerben, mich informieren und mich festlegen. Vielleicht nur auf eine Option, vielleicht nicht die beste, vielleicht eine, die sich als die beste erweist. Von nichts kommt nichts, wohl wahr. Das schließt nicht aus, dass sich durch einen glücklichen Zufall eine Möglichkeit ergibt, mit der man zuvor nicht gerechnet hat, die man nicht einkalkuliert hat. Und ja, dann sollte man vielleicht kurzentschlossen genug sein, diese Möglichkeit zu ergreifen, ohne wirklich darauf vorbereitet zu sein. Ins kalte Wasser springen. Und nach dem ersten Kälteschock neu schwimmen lernen, auf zu neuen Ufern eben.

Was willst du eigentlich?

Ich will einen coolen Sommer erleben, Spaß haben, Zeit mit Freunden und mir selbst verbringen, das Leben genießen, ihn wiedersehen. Das wollt ihr auch, nicht wahr? Aber spielt der Ort wirklich noch eine Rolle dabei? Oder das, was man macht? Eigentlich ist fast jedes Gespräch mit dir, egal, ob im Bett, im Auto oder auf einer Parkbank, eine größere Bereicherung als jedes Konzert, jedes Festival und jeder Städtetrip. Der Tag ist doch schon ausgefüllt mit dir und mir, dazu braucht es keinen Schnickschnack. Und wenn ich Lust auf Gesellschaft habe, dann ist es egal, wo und was wir machen, Hauptsache wir verbringen Zeit miteinander. Und wenn ich dich wiedersehen will und weiß, dass ich das will, dann fahre ich auch durch das halbe Land und dann plane ich das auch und kann es gar nicht bereuen, kann nichts anderes verpassen. Weil ich weiß, dass ich das will.

Was willst du eigentlich?

Heute Abend? Da habe ich keine Zeit, habe ihr versprochen, dass wir uns sehen. Morgen? Da bin ich verplant, gehe ins Kino. Übermorgen? Da will ich mir einen gemütlichen Abend machen, nur ich. Egal, wofür oder für wen oder für was ich mich festlege: Das ist kein Arbeitsvertrag. Oder noch schlimmer, das ist auch kein Ehevertrag. Ich kann immer noch absagen, mich umentscheiden, etwas ändern, kann immer noch Zurück, wenn es denn notwendig ist oder wenn es nicht anders geht oder wenn es darum geht, was mir gut tut. Letzteres kann von Tag zu Tag verschieden sein, klar, aber normalerweise wissen wir doch, was uns gut tut. Normalerweise weiß ich, was ich will. Und klar, manchmal will ich mich bewusst nicht festlegen, will alles auf mich zukommen lassen, will ein bisschen überrollt und vielleicht überrascht werden. Aber manchmal will ich auch einfach noch die uns verbleibende Zeit hier mit euch genießen und das erfordert eben ein wenig Planung. Manchmal will ich auch einfach viel zu viel.

Was will ich eigentlich?

Ich will meinen Weg gehen, mein Ding machen. Aber mit Rücksicht auf andere. Ich will etwas bewirken, ein bisschen zumindest. Glücklich werden, andere glücklich machen. Und das ist manchmal einfacher als man denkt. Dazu braucht es oft keinen Poetry-Slam, kein Konzert, keine Party. Nichtmal Schuhe oder Schokolade. Glück kommt mit relativ wenig aus, braucht keinen Schnickschnack. Nur deine Aufmerksamkeit. 

Das heißt, wir können uns alle dem Moment widmen, den wir gerade echt und real erleben und müssen nicht in Gedanken Terminkalender wälzen, können Fragezeichen ausradieren, die uns dazu bringen unsere Entscheidung für diese eine Option anzuzweifeln und sie zu bereuen. Es gibt keine bessere Option, es gibt nur den besten Umgang mit deiner Entscheidung. Und dann vielleicht den besten Moment. 


Jül

Sonntag, 1. Mai 2016

Bunte Kiste: April 2016

Abschied, Aufbruch und Ankommen. Platzsuche. So viel Platz jetzt.



Gefreut über: den falschen Bus, weniger „Deutschheit“, eine Jazzbar, einen Ausflug ans Meer, Wattwurm-Häufchen und Bananensalat, Sonne satt und Flohmarkt-Gefühle, erfolgreiches Verhandeln und den schönsten Rucksack, den ersten Sonnenbrand, die letzte Woche, die coolste Crew und zu viel Wein, eine gestellte Frage, Injera und St. George-Bier, verkatertes SecondHand-Shopping, die, die mir das erneute Umziehen und Ankommen leichter gemacht hat, Club Mate, ein signiertes Album, gebuchte Flüge, einen endlos langen Kaffeeklatsch, Campus-Gefühl und Seelenverwandtschaft, Punkmaus-Erinnerungen, die (zweit)beste Band des Jahres und den besten Brunch, Zirbelnüsse, eine geniale Live-Show, doch nicht so viel Schüchternheit, Mitternachtssnacks, kulante Polizisten, Schildkröten und Wiedersehen, mehrere, über eines ganz besonders.

Geärgert über: einen Fehltritt.

Auszüge aus meinem Tagebuch:

„Langsam weiß ich, was er meinte. Weil ich abgeschlossen habe. Weil ich losgelassen habe. Und frei bin. Richtig frei. Und das will ich um keinen Preis aufgeben, will es für nichts und niemanden aufgeben, nie wieder. Denn Freiheit überfordert mich nicht mehr, im Gegenteil. Ich bin ihr gewachsen, bin an ihr  gewachsen, darüber hinaus. Ich folge meinem Herzen. Und das hängt nur an Freiheit. Und vielleicht an Brüssel :)“

„Das merke ich mir für nächste Mal. Ich muss mich zu nichts verpflichtet fühlen.“

„Ich hatte mich schon gewundert, dass mir der Abschied so leicht fällt, von ihnen und sogar von ihm. Dann höre ich dieses bescheuerte Lied und mir kommen auf einmal die Tränen. Denn ich will nicht weg, zu sehr ist mir diese Stadt ans Herz gewachsen. Gut, dass ich weiß, dass ich wiederkommen werde.“

„Bin ich jetzt sogar zu naiv, um mich selbst realistisch einschätzen zu können?!“

„Vermutlich ist es meistens vorteilhaft, immer nur das Positive zu sehen. In diesem Fall war es fatal. Alle Vorzeichen, Warnungen und blinkende Ausrufezeichen übersehen. Ignoriert. Und jetzt habe ich den Trümmerhaufen vor mir, darf wieder mit Aufräumen beginnen, von vorne. Mechanisch, zu oft schon. Wenigstens brauche ich jetzt keine Bedienungsanleitung mehr und auch keine Hilfe, ich weiß wie Wiederaufbau funktioniert. Mühselig ist es trotzdem. Und ernüchternd.“

„Ich dachte, er kennt mich gut, richtig gut. Aber tut er nicht, irgendwas war anders. Ich war anders.“

„Nein, noch ist nichts verloren, im Gegenteil. Vielleicht habe ich das gebraucht, um neue Kräfte zu entwickeln. Ein Schlag, unerwartet, um ihn nächstes Mal abwehren zu können. Und das werde ich. Denn ich gehe immer noch als Siegerin aus dieser Schlacht hervor.“

„Ich verabscheue unser Verhalten, unsere Gesellschaft, dieses System. Und spiele trotzdem mit. Mit eigenen Regeln setze ich mich gleich Schach matt.“

„Wieso nur sind manche Menschen so blind für das, was um sie herum passiert?“

„(…) Aber nichts zu hoffen, nichts zu erwarten, zwanglos. Ja, das ist wohl das richtige Wort. Ein verdammt neues Gefühl. Komplette, absolute Freiheit, seltsam fühlt sie sich an. Seltsam fühlt es sich an, mit dir zu reden und nicht berührt zu werden. Seltsam, auf einmal so viel Platz zu haben, so viel Raum. Ich weiß noch gar nicht, wie ich den füllen soll."

 „Oh ja, wir wollen die ganze Palette, alle Farben ihrer Mütze und alle Farben des Regenbogens. Denn wir haben die Wahl, die freie Wahl, Riesenauswahl. Das werden wir nutzen, tun wir jetzt schon.“

„Irgendwie ist die ganze Bewunderung weg. Und jetzt? Ist ganz viel Platz für Neugier, Respekt und Vertrauen, vielleicht. Vielleicht ist das ganz gut so, in einer Freundschaft ist zu viel Bewunderung irgendwie fehl am Platz. Freundschaft geht nur auf Augenhöhe.“

„Wem wollte ich es nochmal rechtmachen?! Gut, dass ich immerhin da stur bleiben konnte. Gut, dass ich mich nicht noch zu mehr hab‘ überreden lassen. Gut, dass ich Prinzipien habe. Denn so kann er mir nicht noch mehr Vorwürfe machen. Und ich brauche mich auch nicht schuldig fühlen, schließlich bin ich niemandem zu irgendetwas verpflichtet, ihm erst recht nicht.“


Und der Mai?


Ich freue mich auf: Krankenbesuche, Luft zum Atmen, Frühling, den Berg und das erste Festival :)

Jule

Freitag, 1. April 2016

Bunte Kiste: März 2016

Sirenen und Stille. Betroffenheit und Schockzustand. Solidarität und Mitgefühl. Ausnahmezustand, positiv. Großstadt und Wiedersehen. Leben genießen, mit ein bisschen Leichtsinn.


Gefreut über: die beste Schokolade und weltbeste Sandwiches, ein bisschen gendern am Weltfrauentag, ein bisschen Frühling, dieses geniale Reggae-Konzert, Random facts und Stoppelfeten, kommende Wecker, stehengebliebene Uhren und die immer größer werdende Zeitverschiebung, St- Patricks-Feierei, eine große Putzaktion, eine Zusage, Arche-Gefühl, Zusammenhalt und Fürsorge. Meine letzte Seminararbeitskrise und die damit verbundene beste Entscheidung. Dieses London-Wochenende mit Schwesterherz, Street Art in Brick Lane, gute Gene, äthiopischen Kaffee, den perfekten Sprint zum Zug, das teuerste Bier und die teuerste Pizza und einen falschen ersten Eindruck

Geärgert über: Weiß ich nicht mehr. Unbedeutend vermutlich. So eine Erfahrung relativiert alles.

Auszüge aus meinem Tagebuch:

„Ja, vielleicht hat er Recht. Vielleicht sollte ich die Kontrolle abgeben. Vielleicht hindert mich das am Leben, bindet mich am Denken. Er ist beeindruckt, von meinem Willen mich zu kontrollieren. Der Wille, der mich fast zerstört hätte. Der mich gerettet hat. Tut er immer noch. Aber vielleicht ist es jetzt an der Zeit, Kontrolle abzugeben, nicht an ihn, an das Leben. Um mich überraschen zu lassen, nicht nur von ihm, auch vom Leben.“

„(…) und ich habe in endlos langer Ignoranz mit meinem Körper in ihm neben ihm hergelebt ohne zu leben, überleben. Gut, dass ich aufgewacht bin. Dass ich geändert habe, verändert, mich verändert. Dass ich akzeptiere, meistens. Dass ich lebe, jetzt wirklich, jetzt wieder. Jetzt sowieso intensiver.“

„Genug, um stolz zu sein. Zu wenig, um mich damit zufrieden zu geben?“

„Tja, da wuselt die Absurdität dieser ganzen Situation um mich rum, prasselt auf meine Nerven und ich bleibe einfach gelassen. Grinse ihn an und beiße in mein Ziegenkäse-Lavendelhonig-Blaubeer-Sandwich.“

„Wer hätte gedacht, dass ich mir Selfie-Abende nicht mehr fest vornehmen muss. Dass ich ganz automatisch gern allein bin, mit mir und meinen Gedanken. Wer hätte gedacht, dass ich, ich, die mindestens drei Mal pro Woche mit irgendjemandem geskypt hat, eine regelrechte Abneigung gegen virtuellen Kontakt entwickelt. Dass ich Small Talk vermeide, überspringe. Und ja, mag sein, manchmal fühlt es sich einsam an. Ich brauche niemanden, bin stark, bin überlebens- und anpassungsfähig, überall. Ich komme klar, alleine, irgendwie. Weil ich mit mir klarkomme, niemanden brauche, der mein Glück ausmacht. Und trotzdem ist es schön, umgeben zu sein, von Menschen, Menschen, die ich vielleicht kaum kenne, oder gut kenne, oder irgendwelchen Menschen, weil Nähe, weil Vertrauen, weil Verständnis. Berühren, bewegen, beruhigen. Aufwühlen, reizen, provozieren. Weil Glück geteilt viel schöner ist.“

„Hab' ich was im Gesicht oder wieso grinsen mich alle Leute, denen ich begegne, an? Spiegelcheck. Ah ja, hab wirklich was im Gesicht. Auf den Lippen, um genau zu sein. Ein Lächeln, permanent quasi. Also ist wohl nur meine gute Laune ansteckend :)“

„Wünsch dir was. Jetzt. Dann ist es Frieden. Jetzt. Dann braucht es dazu wohl zentnerweise Feenstaub.“

„Da sitze ich in meinem Brüsseler Kabuff, bin in Sicherheit und bin gerührt, dass so viele an mich denken. Nur du nicht. Keine Frage, kein Lebenszeichen. Dabei müsstest du doch wollen, dass ich dir eins sende. Oder? Denkst du noch an mich? Oft? Manchmal? Wenigstens heute? Würde es dich kümmern, stieße mir etwas zu? Dich aus der Bahn werfen? Fragst du dich manchmal, wie es mir geht, was ich mache?  Wenigstens heute? Ich frage mich all‘ das. In Bezug auf dich. Denn ich vermiss‘ dich, nicht akut, keine Sorge. Eher rational, kalkuliert. Das tut auch nicht mehr weh, fühlt sich eher an wie ausgekauter Lila-Lieblings-Airwaves-Kaugummi. Wenn man weiß, dass es der letzte war und man keinen Nachschub kaufen kann. Und den Geschmack vermisst.“

„Verstecken? Einschließen? Weglaufen? Ganz bestimmt nicht. Als würde das irgendjemandem irgendetwas bringen. Sicherheit gegen Freiheit. Als wäre das ein guter Tausch. Als würde es dir mit ein bisschen mehr Sicherheit besser gehen, wenn du dafür die Freiheit aufgibst, dahin zu gehen, wo du willst und das zu machen, was dir beliebt. Ich schlucke, schlucke den kleinen, festen Angst-Kloß so gut es geht hinunter und öffne die Tür. Erster Schritt nach draußen. Die Sirenen heulen auf, gar nicht so weit weg. Verängstigte Gesichter, gehetzte Blicke. Und die Sonne scheint, als wäre nichts gewesen.“

„Man gewöhnt sich an alles. Sogar an den widerlichen Chlorgeschmack des verkalkten Wassers hier. Man gewöhnt sich an alles. Sogar an das nasskalte Wetter hier. Man gewöhnt sich an alles. Sogar daran, dass du fehlst. Man gewöhnt sich an alles. Auch an die Angst?“

„Ja, was suche ich eigentlich? Das Neue, das Extreme, das Andere. Was gebe ich dafür auf? Ein Zuhause, Zufluchtsort, Sicherheit vielleicht, Halt ganz sicher. Ist es das wert? Ja. Ich habe aber auch keinen Vergleich. Muss nachholen, muss nichts missen. Niemanden vermissen. Und ja, das habe ich mir so ausgesucht."

„Sein und mein Lebenskonzept lassen sich nicht vereinbaren. Stimmt. Aber ist mein Lebenskonzept überhaupt mit etwas kompatibel? Mit jemandem? Vermutlich kann es nur für sich stehen. Vermutlich besteht deshalb die Gefahr, einsam zu werden. Aber das nehme ich in Kauf, daran denke ich nicht. Denn jetzt denke ich nur an mich.“

„Faszinierend. Mir ist gar nicht aufgefallen, dass ich endlich weiß, was ich will.“


Und der April?

Ich freue mich auf: Ein wenig Normalität und ein bisschen Brüssel genießen. Meinen Besuch und einen Ausflug ans Meer. Zu Hause, ganz kurz. Regensburg. Ein Konzert. Das alltägliche Abenteuer und das wöchentliche Über-Bord-Werfen meiner Vernunft. 

Jule

Dienstag, 22. März 2016

In Sicherheit?


Brüssel, 22.03.2016. Ausnahmsweise ist mein Handy nicht stumm gestaltet. Und es gibt keine Ruhe. Mir geht es gut, ich markiere „In Sicherheit“ auf Facebook, finde die Luft in meinem kleinen Zimmer auf einmal viel zu stickig, reiße das Fenster auf und höre die Sirenen. Ohrenbetäubend, durchdringend und ununterbrochen. Den ganzen Tag. Brüssel wird zur Sirene. Und ich bin mittendrin. Ich bin in Sicherheit. Momentaufnahme.

Was bedeutet schon Sicherheit? Sicherer Drittstaat. Die Sicherheit, dass du mich nicht verlässt. Die Sicherheit, dass morgen alles besser wird. Sicheres Umfeld. Sicherer Stadtteil. Die Sicherheit, dass du wiederkommst. Sicher ist wohl nur, dass es keine Sicherheit gibt. Ein Wort, das ein nichtexistierendes Phänomen beschreibt. Denn was bedeutet schon Sicherheit?

Wenn ich eines gelernt habe, dann, dass es immer anders kommt als man denkt. Dass mein ganzes Planen oft nichts bringt. Dass ich an alles denke und doch nicht auf alles vorbereitet bin. Dass ich mich sicher fühle, obwohl ich es nicht sollte. Dass ich Angst habe, obwohl ich mich sicher fühlen sollte. Irrational. Dem Zufall überlassen.

Europäisches Parlament. Ich warte auf die Dame, die dort arbeitet und ohne die ich keinen Einlass gewährt bekomme. Erst registrieren. Besucher-Badge sichtbar auf den Blazer geklebt, Personalausweis vorgezeigt, durch die Drehtür und die flughafenähnliche Kontrolle. Heimweg, es ist dunkel. Zum ersten Mal habe ich Angst. Dabei stehen an jeder zweiten Ecke Sicherheitsleute, schwer bewaffnet. So viel Aufwand. Für nichts?

Menschen fliehen. So viele, so viele wie noch nie. Weil die meisten in ihrem Herkunftsland nicht sicher sind, um ihr Leben bangen. Setzen eben dieses auf’s Spiel, um nach Europa zu kommen, um in Sicherheit zu sein und sind es nicht. Denn egal wer, egal ob Flüchtling oder Politiker, egal ob Arm oder Reich, egal ob Jung oder Alt, egal ob. Es kann jeden treffen. Egal, wo. Egal, ob Brüssel oder Beirut oder Paris oder Dorf oder Afrika (Mama, Afrika ist groß!). Egal, was. Denn unglückliche Zufälle gibt es immer, Sicherheit keine. Egal, ob Naturkatastrophe oder Autounfall oder Zugunglück oder Stolperstein. Egal, ob Unachtsamkeit oder Absicht. Egal, ob Überfall oder Attentat. Egal ob. Nein, verdammt. Es ist nicht egal!

Es ist nicht egal, wen es trifft und wo und warum. Denn es trifft immer auch andere, an einem anderen Ort, aus verschiedenen Gründen. Wir haben Verantwortung, nicht nur für uns als Individuum, auch für uns als Menschheit. Denn wir sind Wesen, die rational denken können und es auch sollten. Die Mitgefühl empfinden können und es auch sollten. Die anderen helfen können und es auch sollten.

Wenn du da bist, fühle ich mich sicher. Ich weiß nicht, was das ist. Verständnis. Interesse. Aufmerksamer Blick, du siehst mich an, siehst mir in die Augen, Augenhöhe. Du hast so viel mehr erlebt, bist an so vielen Orten gewesen, da kann ich nicht mithalten, dachte ich immer. Und kann es doch. Denn du weißt, ich brauch‘ dich nicht, ich kann auf mich selbst aufpassen. Und habe doch das Gefühl, dass du auch auf mich aufpasst, heimlich, wenn ich träume und in Gedanken bin und albern werde, unachtsam, leichtsinnig. Und auch das, Momentaufnahme.

Aber wenn wir es schaffen, diese Momentaufnahmen zu sammeln, in denen wir uns sicher fühlen, dann ist das unglaublich wertvoll. Ja, die Regierung kann Sicherheitsvorkehrungen treffen, Institutionen können für ein Gefühl von Sicherheit sorgen, die Polizei trägt dazu bei. Das ist wichtig, unerlässlich. Und dann gibt es jeden einzelnen für uns. Man kann sich selbst Sicherheit geben, das funktioniert. Damit meine ich nicht ein realitätsfernes, die Augen vor der Realität verschließendes „sich in Sicherheit wiegen“ und „in Watte packen“. Damit meine ich vielmehr, Vertrauen zu haben, in sich und in das Leben. Viele Situationen, die Unsicherheit erzeugen, lassen sich allein dadurch leichter ertragen, wenn man weiß, dass man klarkommt, irgendwie. Dass man sich nicht mitreißen lässt von Angst und Panik. Weil es nichts bringt. Viel effektiver und beständiger ist hingegen die Sicherheit, die wir uns gegenseitig geben können, wir alle. Wenn wir wissen, dass wir nicht alleine sind und auch nicht alleine klarkommen müssen. Wenn du meine Hand nimmst und ich weiß, dass mir nichts passieren kann, ich mir fast sicher bin. Und wenn wir uns alle an den Händen nehmen, kann niemand fallen.

Ich laufe durch die Straßen, es ist dunkel. Schummriges Licht wirft Schatten auf die unebenen Pflastersteine, über die ich schon so oft gestolpert bin. Äste knacken, ab und an ein Motorengeräusch. Sollte ich Angst haben? So spät ist es nicht. Vielleicht würde ich mich mit Pfefferspray sicherer fühlen. Vielleicht war es dumm, sein Angebot mich heimzubegleiten abzulehnen. Nur weil ich wieder zu stolz bin. Vielleicht ist es leichtsinnig. Aber was soll schon passieren?

So viel ist heute passiert, immer noch Sirenen. Mir ist nichts passiert. Hätte ich gestern genauso schlecht geschlafen wie vorletzte Nacht, dann wäre ich vermutlich später aus dem Bett gekommen und später aus dem Haus gegangen. Hätte keine Zeit fürs Frühstück gehabt. Hätte dann vielleicht einen kleinen Umweg gemacht, um mir an der Metro Station einen Power-Smoothie zu kaufen. Hätte es in Strömen geregnet, hätte ich wohl eh die Metro genommen. Und wäre an besagter Station ausgestiegen. Es ist nichts passiert. Ihr auch nicht. Eigentlich hätte sie die Metro genommen, zur Sprachschule. Aber sie war gestern feiern und hat verschlafen. Eigentlich hätten seine Eltern kommen sollen. Aber das Flugzeug wurde umgelenkt. Eigentlich hätte er sie am Flughafen abholen sollen, aber er ist eingeschlafen. Verrückt oder? Im Prinzip sind es Zufälle, die entscheiden, Minuten, Sekunden. Gedanken, Ideen, ein Gefühl nur, eine Entscheidung. Und auf den Zufall kann man sich nicht verlassen, eher braucht man einen guten Schutzengel.

So viel ist heute passiert, immer noch Sirenen. Aber sich jetzt verstecken? Angst haben? Klein kriegen lassen? Sicher nicht. Sicher ist es normal, Angst zu haben. Unfassbar. Sicher ist es normal, dass sich alles seltsam anfühlt, komisch ist. Schockzustand. Aber aufhören zu leben? Man muss ja nicht leichtsinnig sein und sich bewusst in Gefahr begeben, sollte man auch nicht. Man kann vorsichtig sein, soll es auch. Aber nicht zu misstrauisch, nicht gegenüber jedem Menschen, der dir über den Weg läuft. Ja, auch nicht zu naiv, ich weiß. Aber wenn wir uns alle an den Händen nehmen, kann niemand fallen. Wenn wir uns alle an den Händen nehmen, kann sie niemand gegen den anderen erheben. Wenn wir uns alle an den Händen nehmen, fallen Waffen zu Boden. Wenn, dann jetzt. Jetzt erst recht. 

Jule

Sonntag, 13. März 2016

Wünsch dir was

Ich blinzle. Sonnenlicht fällt durch den Spalt im Vorhang und blendet mich, blendet uns. Tagesanbruch. Geschlafen? Haben wir nicht. Geredet? Haben wir viel. Über Kleines und Großes, Banales und Wichtiges, Unsinniges und Ernstes. Gefühlt? Haben wir auch. Mitgefühl, vor allem. Verständnis. Trauer, ein wenig, Hoffnung und Freude, Lust. Und jetzt? Liegen wir hier und sind uns nah und grinsen uns an, die Nacht ist uns ins Gesicht gemalt, hat uns gezeichnet. „You have to make a wish“, sagt er, und pflückt eine Wimper von meinem verschlafenen Gesicht. Gewünscht?

Gewünscht habe ich mir nichts. Nichts, was den Moment betraf, denn der war gut so wie er war. Aber was dann? Das verrate ich natürlich nicht, geht ja nicht in Erfüllung sonst, weiß man ja. Was ich in dem Moment aber nicht gleich wusste, was ich mir wünsche. Mir oder dir oder uns oder euch oder ihnen. Ratlos. Wunschlos. Aber auch wunschlos glücklich?

Natürlich habe ich Wünsche. Jeder hat sie. Und sei es auch nur der Wunsch, dass aller so bleibt wie es ist. Der Wunsch nach Beständigkeit. Oder aber der Wunsch nach Veränderung. Der Wunsch, dass dieses oder jenes NICHT passiert. Nicht MIR passiert. Sind Wünsche egoistisch? Dürfen sie es sein?

Natürlich habe ich auch Wünsche, die größer sind, die nicht nur mein beschauliches Leben und mich als Person betreffen. Sondern auch Wünsche, die meiner Familie gelten, meinen Freunden. Ihnen wünsche ich das Beste, ihnen wünsche ich Glück und Erfolg und Gesundheit und überhaupt. Habe auch Wünsche, die uns zwei betreffen, dich und mich. Die nur dich betreffen. Nur euch, euch alle. Wünsche, die die Menschheit betreffen. Mich mit eingeschlossen. Wünsche, die diejenigen betreffen, die arm oder krank sind, die leiden oder Angst um ihr Leben haben müssen. Mich ausgeschlossen. Aber sind diese Wünsche dann nicht zu generell, zu idealistisch, utopisch, anonym?

Make a wish. Das klingt simpel. Aber wie Prioritäten setzen? Welcher meiner Wünsche ist jetzt der wichtigste? Ich muss mich ja für einen entscheiden. Früher habe ich mir immer gewünscht, dass all meine Wünsche in Erfüllung gehen, die Augen zugekniffen und die Wimper weggepustet. Ohne mit der Wimper zu zucken natürlich. Aber ich glaube, das hat nicht gezählt, hat auch nicht funktioniert. Während all das in meinem Kopf vor sich geht, ich den ein oder anderen unsinnigen Satz von mir gebe, drückt er mir ungeduldig die Wimper auf meine Nase. „It’s just a wish“. Stimmt auch wieder. Und dann fällt mir glücklicherweise ein, dass ich viele Wimpern habe und mir nächstes Mal einfach etwas anderes wünschen kann. Einmal für mich, einmal für dich, einmal für uns, einmal für euch und einmal für sie. Und dann wieder von vorne.

Das wichtigste ist doch, dass wir Wünsche haben. Wünsche, dass etwas so bleibt, wie es ist, weil wir erkennen, dass es gut so ist. Es anerkennen. Und zu schätzen wissen. Träume, wo es für uns noch hingehen soll. Träume, die uns vielleicht den Weg zeigen. Wünsche, dass etwas anders werden soll, weil wir erkennen, dass uns etwas nicht gut tut. Es merken. Und verbessern wollen. Vorstellungen davon, wie eine bessere, gerechtere Welt aussehen soll. Vorstellungen, die uns vielleicht Ideen liefern, uns motivieren. Wünsche, dass es ihnen gut gehen soll, weil wir erkennen, dass vieles ungleich verteilt ist. Es uns stört. Und uns zu Kämpfern macht, zu Mitfühlenden. Wünsche, die uns menschlich machen.


Und vielleicht braucht es auch gar nicht so viele Wünsche wie Wimpern. Vielleicht braucht es nur Glaube, Vertrauen und ein bisschen Feenstaub. Sagt zumindest Peter Pan. 


Jule