Montag, 20. Juni 2016

Ich will weg hier! Oder: Eine Ode an das Fernweh

Ich kann nicht mehr sitzen, nicht mehr lesen, nicht mehr denken. Sitze in diesem Lesesaal, das harte Holz des unbequemen Stuhls drückt gegen meinen Rücken. Die Buchstaben, kreuz und queer farbig bunt markiert, verschwimmen vor meinen Augen und beginnen zu flimmern, wie Diskolichter, die selbst Lust auf Party haben. Und mein Kopf ist voll, dröhnt, hämmernde Gedanken, die wie eine zähe, bleierne Masse zum Stillstand gekommen sind. Also würde ich ununterbrochen gegen den Betonpfeiler vor mir rennen, der mir gnädigerweise die Sicht aufs Fenster und damit auf die draußen scheinende Sonne versperrt. Habe mich eingesperrt, so aber nicht meine Gedanken. Die lassen sich nicht einsperren, müsste ich doch wissen.

Ich denke mich weg, in seine Arme, oder nein, lieber nicht. Ich denke mich weg, an einen Ort, der mir so vertraut ist wie der Geruch meines Lieblingskaffees, ein Ort, an dem die frische, klare Luft mir nicht nur die Haare ins Gesicht pustet, sondern auch träge Gedanken vertreibt. Ein Ort, an dem man das Salz in der Luft schmecken kann, Kindheitserinnerungen an jeder Ecke findet und die Freiheit auf der Zunge trägt. Diese kleine Nordseeinsel. Ich sehe mich gerade da, neben dem Elefanten-Klettergerüst, wie ich im Sand sitze, barfuß, Schuhe brauche ich nicht, das Telefon im Sand vergraben, muss hier ja nichts haben…schaue aufs Meer und sehe den Wellen zu, wie sie an meinen Zehen knabbern, wie die Ebbe die Flut ablöst und die Flut die Ebbe und alles zusammenpasst. Ich will weg hier. Ich will wieder an die Nordsee. Ich muss jetzt leider weiterschreiben, nicht an diesem Roman, nein, zuerst mal an meiner Bachelorarbeit. Ich träume einfach viel zu gern, träume mich weg.


Ich atme tief durch, tanke den abgestandenen Sauerstoff in diesem Raum, setze mich kerzengerade hin und starre angestrengt auf mein bisher eher dürftiges Werk. Na komm schon Jule, konzentrier‘ dich, du bist die einzige, die unproduktiv ist. Denke es und lasse meinen Blick durch den Lesesaal schweifen. Angestrengte Gesichter, gerunzelte Stirnfalten und Köpfe, über Riesenwälzer gebeugt. Komisch, dass noch kein Qualm zu sehen ist. Wieso auch muss ich den Lesesaal Recht als mein Wohnzimmer auserwählen, nur fleißige Juristen hier. Wo die wohl herkommen, was die wohl erlebt haben, wo die wohl hinwollen…ich höre geflüsterte spanische Wortfetzen hinter mir und muss unwillkürlich an das verregnete Sevilla denken, an Fußbäder, an Tapas, an Orangenbäume…qué pena, dass ich jetzt nicht einfach viva la vida kann. Ich runzele ebenfalls die Stirn, schließe entschlossen den Ordner, in dem sich die ganzen, mit Erinnerungen an andere Orte vollgeladenen Bilder befinden und mache mich wieder an die Arbeit. Wie viel Uhr ist denn? 16:34 Uhr…20.Juni…Oh, schon bald Ende Juni…oh, schon bald fliege ich.

Endlich, endlich weg hier! Ungeduldig rutsche ich auf meinem Stuhl hin und her, der nicht bequemer werden will. Ich will, ich will weg hier! Weg von dem Stress, dem täglichen Alltagstrott, den Leuten hier, von denen viele in ihrer Sichtweise so eingeschränkt, in ihrer Meinung so festgefahren sind. Flucht. Flucht nach vorne, Alltagsflucht. Ich habe mich gefragt, ob ich mit meiner Reiselust denn vor etwas weglaufen will. Ob es mir hier nicht gut geht, etwas schief läuft in meinem Leben. Aber nein, es passt alles, alles ist an seinem Ort, nur ich bin nicht an meinem Ort. Denn ich habe keinen, will keinen haben. Es läuft alles, läuft alles gut, läuft in geregelten Bahnen. Und ich will eben ab und an und eigentlich manchmal auch oft daraus ausbrechen. Will Loopings und Hopser und durchgeschüttelt werden. Ich hasse Achterbahn fahren, mag auch keine krassen anderen Fahrgeschäfte, ich mag jedoch Kulturschocks. Ich mag es, irritiert zu sein, weil ich das Verhalten anderer Menschen nicht verstehe. Mag es, neue Traditionen und Sitten zu entdecken, neue Sprachen zu lernen. Ich mag es, eine andere Welt kennenzulernen, unsere Welt, meine Welt anders zu sehen. Und mich dann wieder neu einordnen zu müssen, neu zurechtfinden, in dem, was zuvor vertraut war. Das kann anstrengend sein, ist gleichzeitig unglaublich bereichernd. Horizont erweiternd.


Das ist das Problem mit dem Reisen. Es macht süchtig. Und ich bin gerade auf Entzug und leide. Aber nicht mehr lange, dann bin ich wieder weg! Und bis dahin tun es auch diese kleinen Alltagsträume, in denen ich mal wieder an der Nordsee bin…und wo treibst bzw. träumst du dich rum? :)


Jule

Mittwoch, 1. Juni 2016

Bunte Kiste: Mai 2016

Atemnot und Stillstand. Leerlauf und laufen lernen, laufen lassen. Stop-Taste, Pause, nie wieder Repeat. Diesunddasananas.


Gefreut über: Krankenbesuche, Tulpen und andere Blumen, so viel Hilfsbereitschaft, Düfte, Gerüche und meinen Geschmackssinn, DVD- und Film-Abende, Deluxe-Salat und Pseudo-Steaks, ein interessantes Seminar, mein Thema, gelatinefreie Gummibärchen, illegalen Sport, ein wenig mehr Symmetrie, ganz viel Sonne und Musik und Seifenblasen und Leichtigkeit. Festivalstimmung.

Geärgert über: mein Immunsystem, Busfahrten und Enttäuschung

Auszüge aus meinem Tagebuch:

"Ja, ich weiß auch nicht, was das soll. Ich glaube, es kann gar nicht mehr anders als oberflächlich sein. Alles andere geht nicht mehr, oder? Alles andere war doch so viel wertvoller."

"Wir setzen künstliche Filter, an den unterschiedlichsten Stellen, um uns irgendwie entscheiden zu können. Qual der Wahl, Übermaß an Möglichkeiten. Zu viel, zu schnell, zu gut geht es uns."

"Wie viel Kontrolle tut mir, tut dir, tut uns gut?"

"Da werde ich einfach als Weltverbesserin bezeichnet. Uh, ganz schön viel Verantwortung."

"Ich mag keine halbe Sachen. Entweder ganz oder gar nicht. Aber muss ich wirklich komplett geflasht sein, um mich dafür entscheiden zu können? Muss ich erst etwas, muss ich ihn erst hassen, um mich umdrehen zu können? Muss erst etwas, muss ich ihn erst lieben, um mich darauf einlassen zu können? Es ist nicht alles Schwarz und Weiß. Das Leben ist grau. Und bunt. Und manchmal nur grau, manchmal nur bunt und manchmal alles zusammen. Und dann ist es eben diese komische Mischfarbe, deren Elemente ich nicht mehr ausmachen kann und dann sollte ich diese Versuche alles zu ordnen eben lassen und mich mit dieser Mischfarbe anfreunden. Sieht vielleicht seltsam aus, schmeckt aber eigentlich ganz gut. Schmeckt eigentlich ziemlich geil. Schokolade ist ja auch braun."

"Vermutlich sollte ich aufhören, mir Dinge vorzustellen, auszumalen, mit Buntstiften. In meiner Fantasie leuchten die Farben irgendwie heller, in echt war dieses Wiedersehen doch irgendwie ernüchternd. Blass und verwaschen, vom Regen und allem, was die Realität hässlich macht."

"Vielleicht red‘ ich mir inzwischen nur ein niemanden zu brauchen aus Angst, wieder einmal zu merken, dass niemand zu mir passt oder vielmehr ich zu niemandem passe. Stehe wieder am Rand, beobachte, gehöre nicht dazu. Außenseiterin,  Einzelkämpferin, Gegenstromläuferin. Bin überall dabei und bin es nicht. Gehöre zu ihm, zu ihr, zu ihnen und tue es nicht. Und das ist nicht einmal meine Intention, das passiert automatisch, das war schon immer so. Und frage mich, warum ich mich nie zugehörig fühle, weder einem Ort, noch einer Gruppe, erst recht nicht einem Menschen."

"Gib‘ mir ein bisschen Sonne, ein bisschen Bier und den richtigen Beat, dann werd‘ ich übermütig. :)"

"Vielleicht sollte man manches einfach nicht ausreizen. Vielleicht lieber manches offen stehen lassen, mit Fragezeichen und Platz für Hypothesen."

"Und schon wieder. Die Realität war farbloser als meine Tagträume dazu. Sind das nur meine zu festen, zu hohen Erwartungen?"

"Das ist wohl passiert, weil ich wollte, dass es passiert. Ich weiß, was ich will und wie ich es bekomme, meistens. Das hat sich aber so angefühlt, als würde ich das wilde Leben in eine vorgefertigte, betonierte, gerade Bahn zwängen wollen. Weil ich wollte, dass es genau so verläuft und genau so hat es sich dann nicht mehr passend angefühlt. Wäre es besser gewesen, ich hätte nichts gewollt und nichts versucht und nichts wäre passiert?"

„Jule, du bist so blöd.“ – „Ich weiß. Du bist auch nicht besser.“ Wir schauen uns an und müssen lachen, so lange, bis sich die Dummheiten der letzten Nacht nicht mehr so dumm anfühlen und der verrückte Leichtsinn, der uns beide manchmal packt, alles zu rechtfertigen scheint. Immerhin wird uns so nicht langweilig, immerhin spielen wir so nicht immer in diesem System mit, brechen manchmal aus, sind ein wenig wagemutig und überdreht und übermütig. Sind hoffentlich nicht gänzlich unverbesserlich. ;)


Und der Juni?


Ich freue mich auf: Sommersprossen, Sommerregen, Sommersonnenlaune. Auf ziemlich viele Wiedersehen und Städtetrips, kleiner werdende Bücherberge, Cocktails, Campusfest, legalen Sport und durchtanzte Nächte

Jule