Dienstag, 6. Dezember 2016

Mach dich nackt.



Mach dich nackt, mach dich verletzlich. Entblöße dich, zeig Haut, zeig Herz. Vertraue, bedingungslos. Lass dich fallen, haltlos.


Mir ist egal, was andere über mich denken, denke ich und wünsche mir, meine Hose würde mir über die Knie reichen. Denke ich und blicke mich hektisch um, ob jemand gesehen hat, wie ich mir den Schweiß von der Stirn gewischt habe. Es ist mir egal. Denke ich und fürchte den Moment meiner Wiederkehr, wenn Leute die Kilos, die ich jetzt mehr auf den Rippen habe, kommentieren. Wenn sie sich das Maul zerreißen, Wortfetzen, die zu Boden fallen wie altes, zerrissenes Zeitungspapier. Es ist mir egal, denke ich und genehmige mir einen weiteren Löffel Erdnussbutter. Es ist mir egal, denke ich und ziehe verschämt die Bettdecke über meinen nackten Bauch, als er mich ansieht. Sehe vor meinen Augen mein Selbstbewusstsein in sich zusammenfallen wie ein Kartenhaus, das ich so geduldig aufgebaut habe. Und das Spiel beginnt von vorne.


Ich dachte, mir wäre egal, was andere über mich denken und merke, dass es nicht so ist. Denke und merke, wie gefangen ich doch bin in den Fängen unserer Gesellschaft. Freier Vogel im Käfig. Gitterstäbe, die sich scheinbar wie von selbst wieder rekonstruieren, egal wie oft ich sie schon durchbrochen habe. Ein Gerüst, das uns gefangen hält, uns am Fliegen hindert. Starr, unbeweglich. Wer diktiert denn, was Schönheit ist, was Begabung, was Talent? Wer sagt, was richtig ist, was falsch?

Mach dich nackt, mach dich verletzlich. Entblöße dich, zeig Haut, zeig Herz. Vertraue, bedingungslos. Lass dich fallen, haltlos.



Sieh mich an, sieh in den Spiegel. Wer bist du denn? Eine Puppe vielleicht, die dem Schönheitsideal dieser Gesellschaft entspricht. Makellos. Makellos und ohne Leben, unecht, aus Plastik. Mach Feuer. Und Plastik beginnt zu stinken. Wer bist du denn? Eine Marionette vielleicht, deren Fäden jemand anderes in der Hand behält. Perfekt, kontrolliert. Ferngesteuert. Lass das Feuer brennen und du wirst dich panisch in den Fäden verheddern, die Gesellschaft stranguliert dich. Wer bist du denn? Ein Schauspieler, der eine Rolle spielt, Clownsmaske, Grimasse. Lass das Feuer brennen und deine Maske wird fallen.

Zeig, wer du bist. Lass das Feuer brennen und dein Blick fängt an zu lodern. Leidenschaft. Zeig dein Talent, deine Andersartigkeit, deine Fehler. Schönheit kann man nicht messen und nicht wiegen, nicht in Schubladen stecken und betiteln. Schönheit ist, was echt ist, authentisch. Schön ist, wer echt ist, authentisch. Frei und ohne die Fesseln, die die Gesellschaft uns anzulegen versucht.

Du sagst, dir sei es egal, was andere über dich denken. Sagst es mit fester Stimme, und dennoch: Ich sehe die Zweifel in deinem Blick, Unsicherheit. Du glaubst an dich selbst und tust es nicht. Glaubst, dass das, was du tust, gut so ist, dir selbst entspricht. Und hast trotzdem Angst. Angst davor, verurteilt zu werden, in die falsche Schublade gesteckt zu werden. Die Leute reden sowieso, zerreißen sich das Maul. Zerreißen deine Arbeit, dein Aussehen, dein Verhalten in der Luft, wie Zeitungspapier, bis nur noch Wortfetzen übrig sind. Zünden es an, bis nur noch Asche übrig ist. Aber dein Feuer? Das brennt doch weiter, lodert und verbreitet Wärme, für die, die sich nah genug heranwagen, ohne Waffen, nackt.

Mach dich nackt, mach dich verletzlich. Entblöße dich, zeig Haut, zeig Herz. Vertraue, bedingungslos. Lass dich fallen, haltlos. Mach dich nackt, mach dich frei. Mach dich nicht klein.

Wovor hast du Angst? Ich habe Angst, nicht gemocht zu werden. Habe Angst, allein zu sein, kritisiert zu werden, ausgestoßen. Auch wenn ich immer behaupte, ich sei Einzelgängerin, Einzelkämpferin. Und doch, ich brauche sie, Anerkennung, brauche sie, die, die an mich glauben, wenn ich es selbst gerade nicht kann. Die mir den Rücken freihalten, wenn ich meine Hände zur Abwehr brauche. Die, die mir Halt geben, wenn ich meine Flugkünste überschätze und zu fallen drohe. Die, die mir die Wahrheit sagen, wenn ich mich selbst belüge. Ich brauche sie und brauche Anerkennung und Bestätigung und habe Angst. Angst davor, nicht dazuzugehören, nicht akzeptiert zu werden, Angst vor meiner Andersartigkeit. Bunter Vogel. Brauche mein Nest, in das ich zurückfliegen kann, wenn mir die Höhenluft den Atem nimmt, ich aus der Puste komme. Und ich habe Angst, dir nicht zu gefallen, dich zu enttäuschen. Habe Angst, dir zu vertrauen.

Mach dich nackt, mach dich verletzlich. Entblöße dich, zeig Haut, zeig Herz. Vertraue, bedingungslos. Lass dich fallen, haltlos. 

Ich spüre seinen Blick auf mir ruhen, wie er mir durch den Raum folgt. Meine Finger fangen an zu kribbeln und ich bekomme Gänsehaut. Der Tag neigt sich dem Ende zu, kurz vor 6. Die letzten schwachen Sonnenstrahlen werfen Licht auf den Staub im Zimmer, lassen ihn tanzen. Schatten legen sich wie ein Samtvorhang auf sein Gesicht und lassen seine Wimpern noch viel länger wirken als sie eh schon sind. Sein Mundwinkel zuckt und ich weiß, was er denkt. Ich weiß, was er will, als ich in seine Augen blicke und mich in deren Dunkelheit zu verirren drohe.

Es ist Nacht, die Schwärze scheint dichter als sonst, schwarze Tinte. Ich kann nicht einmal meine eigene Hand sehen, obwohl sie doch weiß ist. Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen und hoffe, dass es wenigstens in dieser Straße kein riesiges Schlagloch gibt. Auch die Stille scheint undurchdringlicher als sonst, ich höre nichts außer das Knirschen der Steine unter unseren Füßen. Und deinen Atem. Als ich stolpere, hast du schon längst nach meiner Hand gegriffen. Hältst mich fest, lässt mich nicht los. Und ich lasse mich fallen.


Mach dich nackt, mach dich verletzlich. Entblöße dich, zeig Haut, zeig Herz. Vertraue, bedingungslos. Lass dich fallen, haltlos. Freier Fall mit Aufwind. 







Yule

Photographer: Jacques Nkinzingabo



Donnerstag, 27. Oktober 2016

#juleimlanddertausendhügel – Zweite Eindrücke

Vielleicht es gut und wichtig, nicht mehr so geblendet zu sein vom besten Land Afrikas. Denn auch wenn die Sonne hier hoch im Zenit steht, fallen Schatten. Alles, was glänzt, muss erst einmal von jemandem poliert werden. Und die dreckigen Putztücher sammle ich nun auf, eines nach dem anderen, mühsam. Frust macht sich breit.


Dass ich keinen Plan mehr habe ist allgemein bekannt. Dass das aber meinen Fokus verschoben hat, ist neu. Interessant zu merken, dass sich neue Perspektiven auftun, einfach dadurch, dass ich keinen Fokus mehr habe, ihn verloren habe, auf dem Weg. Dass dieser nicht mehr sauber ist, nicht mehr asphaltiert, sondern staubig, roter Sand, wie die meisten Wege hier.


Noch nie war ich von Menschen so genervt. Außer vielleicht von Menschenmassen auf der Oxford Street an einem Samstagnachmittag, nicht wahr, Schwesterherz. Aber jetzt zu merken, dass dieses Interesse nur geheuchelt ist, dass ein anderes dahintersteckt, tut weh. Schon wieder verschlucke ich mich an meiner eigenen Naivität, zu süß war der Geschmack. Und wieder werde ich kälter, werde mir selbst einfach nehmen. Was wollt ihr denn? Mein Geld, einen Flug, meinen Körper, ein Versprechen, mein Versprechen? Sicher nicht meine Wahrheit, denn die ist nun einmal doch eine andere. Was will ich denn? Deine Kontakte, deine Zeit, dein Lachen. Deine Nähe, vielleicht. Vielleicht will ich auch nur meine Ruhe.


Jetzt muss ich diesen Frust zusammen mit meiner Naivität hinunterschlucken, um die nächste Stufe zu erreichen. Um gelassener zu werden oder gleichgültig. Es wird mir egal sein, ich weiß es. Und dann werde ich anders egoistisch sein als ihr, mir einfach nehmen, was ich will. Ohne Rücksicht auf Verluste. Auch dein Herz?


Füße, die sich auf dem Trampelpfad vor mir bewegen. Leichtfüßig und barfüßig und dennoch, unendlich langsam. Auch wenn mir die Hitze zu schaffen macht, ich ständig stolpere, möchte ich doch vorankommen. Und nicht in diesem Tempo, schneller. Diese Langsamkeit macht mich aggressiv. Und das vermutlich nur, weil ich ungeduldig mit mir selbst bin.


Wozu denken? Wozu hinterfragen, reflektieren, kritisieren? Wozu leben?

Der Vergleich macht mich wütend. Kampala und Kigali, Kontrastprogramm. Natürlich ist Kampala größer. Und bunter, lebendiger, dreckiger, chaotischer, lauter, gefährlicher. Anstrengender? Oder ist es diese Stille, die ich in Kigali nun anstrengend finde, die Staubschicht die auf dieser sauberen Stadt liegt und sie umhüllt wie eine Glocke. Die Luft wird knapp in jeder Unterhaltung, auf jeder Party, bei jedem Blickwechsel. Selbst die Farben sind staubig, deine Augen auch.


Je länger ich hier lebe, desto wichtiger wird das, was wirklich wichtig ist. Freiheit. Was für ein Luxusgut. Ein Zustand, der so leicht einzuschränken und so schwer zu erreichen ist. Selbst ich, geboren in einem freien Land mit tausenden Möglichkeiten, frei in meiner Wahl, merke, wie die Gesellschaft mir Fesseln angelegt hat. Diese nach und nach zu durchtrennen fühlt sich paradoxerweise so an, als würde ich Perlen von meiner Lieblingskette abreißen. Nackter Hals, nackte Gedanken, verletzlich.


Und ja, fast vergessen: Freiheit findet vor allem in deinem Kopf statt.


Fast mechanisch nehme ich den Motohelm von meinem Kopf, drücke dem Fahrer einen zerknitterten Schein in die Hand und murmele ein Dankeschön auf Kinyarwanda. Sehe weder das überraschte Gesicht des Fahrers, noch die Rufe der anderen, noch die anzüglichen Blicke des Typen neben mir. Fast stolpere ich über einen Haufen toter Hühner, renne einen der unzähligen Handy-Guthaben-Verkäufer über den Haufen und bahne mir den Weg zu meiner Lieblingsschneiderin. Durchatmen. Stoffbahnen, bunt, in allen Farben mit den schönsten Mustern. In meinem Kopf entstehen 58 Ideen für ein Kleid und einen Rock und überhaupt einen kompletten Schrank voll neuer Kleidung. Ich überlege, was ich will und entscheide mich. Und nehme auf einmal wieder alles um mich herum wahr, Marktgeschrei, das Rattern der Nähmaschinen, die Hände von unzähligen Verkäufern an mir. Der Duft von Maracuja und Ananas vermischt sich mit dem Gestank von Frischfleisch in der Mittagshitze und mein gestresstes Gemüt lässt sich von meinem Grinsen ablösen. Beschwingt springe ich über den Hühnerhaufen zurück zum nächsten Moto und wundere mich, wie sehr doch alles von meiner Stimmung und meiner Perspektive abhängt, während der Trubel der Stadt an mir vorbeizieht.


Als wäre ich dein neues Handy, an dem du rumspielen kannst. Als wäre ich ein offener Geldbeutel, an dem du dich bedienen kannst. Als wäre ich ein Stück Ziegenfleisch, das du nach Lust und Laune zubereiten kannst. Widerlich. Ich bin weg, hast du ja gemerkt.


Diese Reaktionen machen mich wütend, definitiv. Als hätte nur ein Mann das Recht, so zu reden. Als hätte nur ein Mann das Recht, sich zu vergnügen. Als hätte nur ein Mann das Recht auf eigene Entscheidungen. Als hätte nur ein Mann das Recht, eine Frau anzuschreien. Blöd, dass ich so ein lautes Organ und so viel Wut in mir habe. Auf dich, auf diese Geschlechterkonstruktionen und diese Gesellschaft. Und auf mich, dass ich nicht souveräner damit umgehen kann.


Ich lasse mir nichts vorschreiben. Nicht von dir, der du meinst, du könntest mich zu einer Begrüßung zwingen, die ich nicht angemessen finde. Nicht von dir, der du meinst, du könntest es einfordern, mich zu kontrollieren. Nicht von dir, der du meinst, welches Essen und welcher Lebensstil gut für mich wären. Das weiß ich schon selbst. Oder weiß es nicht und flieg‘ auf die Fresse und schmecke Blut und lerne daraus. Vielleicht lerne ich ja sogar von dir. Aber nicht, weil du mich erziehst oder belehrst, sondern weil es das Leben tut.


Wahrscheinlich muss ich das hier gar nicht alles gut finden, muss es auch nicht verstehen, werde ich eh nie. Wahrscheinlich ist es genug, zu beobachten. Zu erkennen, zu kritisieren, zu hinterfragen. Es nicht zu verstehen und es dabei zu belassen. Wahrscheinlich ist das die größte Kunst: es dabei belassen, dabei gelassen bleiben, Akzeptanz, simpel und radikal. So weit bin ich noch nicht, er war schneller. Seine Souveränität fehlt mir noch, sein Umgang damit. Das kann ich definitiv lernen: den Kopf schütteln, grinsen über diese Andersartigeiten und weitergehen.


Das kann auch Spaß machen. Du starrst mich an, starrst mich an als wäre ich grün und nicht weiß, starrst mich an als hätte ich Taubenkacke auf der Stirn und Erdnüsse in der Nase. Und nun? Starre ich zurück. Starre zurück, verdrehe die Augen, ziehe eine Schnute und forme ein „U“ mit meiner Zunge. Und bringe dich damit zum Lachen, na geht doch. Mission erfüllt.


Schwarz ist nicht Weiß und Weiß nicht Schwarz und so viel ist dazwischen. Wir sind alles gleich und sind es nicht. Aber unser Lachen hat die gleiche Farbe, unser Lachen ist bunt. 


Jule

Freitag, 30. September 2016

Auf der Suche, immer noch. Immer noch nicht angekommen?

Er erzählt, schon eine ganze Weile. Ich höre zu, spiele gedankenverloren mir der Serviette auf dem Tisch vor mir und spüre fast nicht, wie mir Tränen in die Augen steigen. Woher dieser Druck? Er erzählt doch nur. Von seinem Leben, seinen Träumen, seinen Zielen. Was er erreichen, verändern will. Was er will. Und du, was willst du werden, wo willst du hin?

Ich weiß es nicht. Weiß nicht, was ich hier mache, was ich will und was ich bin. Wer ich bin. Bin auf der Suche. Wonach?

Er erzählt von seinen Plänen, lacht dabei, malt sie vor mir in die Luft zwischen uns, bunt und abstrakt. Und doch so real, so greifbar. Seine Augen leuchten, wenn er davon redet. Wenn er davon redet, wo er hinwill. Sein nächstes Projekt. Und dann das. Und das dann am besten so. Und er hat es verdient, mehr als jeder andere. Er hat dafür gekämpft.

Ich wohl auch, habe gekämpft, lange genug. Aber nicht für das, was ich will. Vielmehr für das, was mich daran gehindert hat, erkennen zu können, was ich will. Oder so. Ist das verständlich, ist das denn möglich?

Er schweigt. Sieht mir in die Augen. Schön sind sie, schokoladenbraun, aufmerksam, fragend. Wenn ich nur auch so lange, dunkle, fein geschwungene Wimpern hätte. Wieso blinzelt er nicht? Unruhig rutsche ich auf der unbequemen Holzbank hin und her, ziehe an meinem Rock herum, der ein wenig zu kurz ist für dieses Land. Ich starre angestrengt auf den frisch gepressten Saft am Nebentisch und versuche, der hellgelben Farbe einen Namen zu geben. Gesprenkeltesananasgelbimmorgenlicht. Jule, was willst du, was willst du tun, erreichen, sein?

Ich weiß es nicht, verdammt. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich keinen Plan. Planlos, orientierungslos. Lasse mich treiben und es ist wunderbar. Im Moment, in diesem Moment. Da schwimme ich einfach mit dem Strom und nehme alles mit. Treibgut, ohne Ballast. Aber auch ohne Ziel. Ich habe ein Steuer und kann es nicht benutzen. Habe Hände und kann nichts greifen. Habe Ideen und kann sie nicht fassen. Wohin damit, wohin mit mir?

Wir sind auf der Suche. Nach Abenteuern. Nach neuen Herausforderungen, Begegnungen, nach coolen Partybekanntschaften. Nach tiefen Freundschaften und nach leidenschaftlichen Nächten. Wir sind auf der Suche nach mehr. Nach mehr Spontaneität, Verrücktheit, Aufregung. Nach mehr Loslassen. Auf der Suche nach Wissen, nach Erfolg, nach Erfüllung. Auf der Suche nach uns selbst. Wir verlieren uns selbst auf der Suche nach uns selbst, sind ohne Kompass, orientierungslos. Planlos verplant. Wir verlieren unsere Werte auf der Suche nach Ekstase, geben uns hin, vergessen uns selbst. Und alle anderen. Egoist. Wir verlieren unsere Träume im Triebsand dieser Konsum-, in dieser Konkurrenzgesellschaft. Schneller, höher, weiter. Besser. Mehr.

Ich will mehr. Ich will mich nicht nur treiben lassen, nicht nur mit dem Strom schwimmen. Dagegen. Kämpfen. Für mich, für andere. Für Veränderung. Ich will, dass das, was ich mache, einen Sinn hat, dass meine Existenz einen Sinn hat. Ich will gegen die Strömung schwimmen und gegen den Strom, will gegen Wände laufen und daran hoch. Will fliegen lernen und andere beflügeln. Freiheitskampf.


Ich weiß, was ich will, jetzt brauche ich nur noch einen Plan. Ich geh‘ mal suchen. 

 Jule

Sonntag, 28. August 2016

#juleimlanddertausendhügel – Erste Eindrücke

Sonnenlicht kitzelt meine Nase, unterbricht meine bunten, wirren Träume mit hellen Pünktchen und lässt mich wach werden. 6:03 Uhr. Sonnenaufgang. Zu früh, viel zu früh. Verschlafen ziehe ich mir meine geliebte, so gar nicht peinliche Schlafmaske über die Augen und falle nochmal in einen leichten Schlaf. Fast schlafe ich zu lange, verheddere mich im Moskitonetz und springe unter die – eiskalte - Dusche. Immerhin bin ich jetzt wach. :)


Vom roten Sand verfärbte Schnürsenkel.

Socken, die nie wieder weiß werden.

Wind, der mir beim Moto fahren beinahe den schlecht sitzenden Helm vom Kopf reißt.

Staub, in den Haaren, im Gesicht, überall.

Sonne, in deinem Lächeln, deinen Augen, überall.


Dunkelheit, die sich wie ein Vorhang über – meist sogar geteerten – Straßen dieser Stadt legt. 18 Uhr. Als hätte jemand das Licht ausgeknipst. Ich weiß nicht, ob ich mich daran gewöhnen werde, dass die Dämmerung einfach übersprungen wird. Ich weiß nicht, ob ich mich daran gewöhnen werde, nachts durch die Straßen laufen zu können ohne Angst zu haben. Ich bin hier sicher, aber Sicherheit hat auch hier ihren Preis.


Avocados, die ohne Salz und Pfeffer schmecken. Bananen, die so süß sind, dass sie problemlos als Süßigkeiten durchgehen.

Lichtermeer. Wir gehen lachend aus dieser winzigen Bar, in der wir uns gerade mit den besten Kochbananen die Bäuche vollgeschlagen haben. Stockfinster ist es und unter uns liegt die Stadt, die aus unzähligen Sternen zu bestehen scheint. Wir versuchen, diesen seltsamen Zischlaut nachzuahmen, aber die Motos kommen auch so, zu auffällig sind unsere weißen Gesichter, zu verlockend die Aussicht, das Doppelte für eine Fahrt verlangen zu können. Kurzer Wortwechsel auf Kinyarwanda, Englisch und Französisch und ich schwinge mich auf das Moto, das den Berg hinunter mit mir ins Lichtermeer rast.


Komisch, dass ich gar keine Angst habe, mich nicht unsicher fühle, keine Zweifel habe. Das ist definitiv neu. Und fühlt sich definitiv gut an.

Ein bisschen Optimismus, Leichtsinn und Naivität hat noch niemandem geschadet.

Samosas und Chapati, so heiß, dass ich mir Finger und Mund verbrenne. Aber viel zu lecker, um zu warten.

Frauen, die die Straße kehren, unermüdlich. Es legt sich immer neuer Staub auf den Teer. Erinnert mich an Momo.


Ich habe noch nie so große Augen gesehen, denke ich mir, als ich gebannt an seinen Lippen hänge. Erzählen kann er. Überleben auch.

Ich merk‘ schon, ich werde hier schon wieder leichtsinnig. Aber es macht unglaublich viel Spaß. Und bei diesen tollen Menschen hier hab ich eh keine andere Wahl als komplett verrückt zu sein. :)


Dieser Satz, den ich jeden Tag mindestens fünf Mal höre. Ja, ich habe ein tolles Leben. Das ist mir bewusst, dafür bin ich dankbar, darum habe ich gekämpft.

Schwer zu durchschauen, was hier echt ist.


Blicke, fragend, beobachtend, stechend, belustigt, fordernd, fragend, neugierig. Und das nur, weil ich weiß bin.

Komplimente, ehrlich, verlogen, mit Absicht, ohne Hintergedanken, nett und kitschig, schön und lustig, lächerlich, schmeichelnd. Und das nur, weil ich weiß bin. Wer ist eine Ausnahme, ist er eine Ausnahme?


Als wäre ich ein Alien, ein Star, jemand, der nicht hierher gehört, jemand, der anders aussieht, anders behandelt werden muss, weil er anders ist?

Dieser ekelhaft hautfarbene Gecko, der auf einmal am Fenster sitzt und mir bei der Arbeit über die Schulter schaut. Diese ekelhaft schnelle Kakerlake, die sich zwischen Tee und Reis versteckt und einfach nicht zu fangen ist. Dieser unglaublich bunte Schmetterling, der Loopings über meinem Kopf dreht, während ich mit jedem Höhenmeter mehr aus der Puste gerate.

Wem kann ich hier trauen? Zumindest schon mal dem Leben, bedingungslos. Aber Menschen, diesen Menschen?



Es fühlt sich normal an, mit ihm hier zu sitzen und über Gott und die Welt zu reden, als würde ich schon seit langer Zeit hier leben, ihn seit langer Zeit schon kennen. Dabei müsste alles neu sein, schließlich hat sich so viel verändert. Vielleicht bin ich mittlerweile wirklich anpassungsfähiger, toleranter, noch lange nicht genug. 


Jule

Montag, 1. August 2016

Bunte Kiste: die vorerst letzte

Nostalgie. Zu viel, was war. Emotionen. Zu viel, was ist. Vorfreude. So viel, was noch kommt. Und ich bekomme nicht genug.


Gefreut über:
Die kleinen Dinge.

Geärgert über: Streit, Stress und Skrupel. Boshaftigkeit und Geldgier. Scheuklappen und festgefahrene Meinungen. Engstirnigkeit. Was wäre wenn.

Auszüge aus meinem Tagebuch:

„Wieso muss ich mich rechtfertigen? Für das, was ich tue und für das, was ich lasse? Für das, was ich denke und für das, was ich sage? Für das, wofür ich kämpfe, schweige, träume, bin? Das liegt doch nicht an mir, sondern an unserer verdrehten Gesellschaft."

„Ich will, dass er bereut.“

„Wohin mit all den Emotionen???“

„Fuck, zu viel Nostalgie. Die Farben vergilben sich ja schon vor meinen Augen, werden zu abgegriffenen Fotografien.“

„Ha. Ich habe einfach nie gelernt, vernünftig mit Stress umzugehen. Deswegen schwimme ich wohl gerade so. Aber untergehen werde ich nicht!“

„Vielleicht bin ich gar nicht so besonders.“

„Selbstzweifel, was ist das?“

„In Momenten wie diesen verabscheue ich meine Naivität. Reinfall, schon wieder. Und es ist ärgerlich, tut weh, schon wieder. Und wieder, immer noch bin ich naiv. Und wieder, immer noch kann ich mich freuen, begeistern, grenzenlos und pur. Echt. Und das nur, weil ich naiv bin.“

„Das ist wohl das Problem bei Hilfsbereitschaft: Dem Helfenden gibt sie Macht und bringt ihn in eine übergeordnete Position, dem Hilfsbedürftigen verpflichtet sie zu Dankbarkeit und mehr. So entsteht Abhängigkeit. Etwas, das auch mir eigentlich widerstrebt. Aber wie soll man auch ahnen können, dass  freiwillig angebotene Unterstützung zum Verhängnis und zum Vorwurf für die eigene Untätigkeit wird? Das sind doch falsch verknüpfte Bedingungen.“

„Andererseits kann Hilfe nie bedingungslos sein. Oder?“

„Und wieder: Ich bin außen vor.“

„Was soll der Geiz? Wir haben alle genug Gefühle. Vielleicht jedoch zu viel und einfach genug davon?“

„Dieser Sommer sollte anders werden. Sommer meines Lebens, lebe deinen Sommer, dein Leben, ja genau. Wie soll ich jemals alles nachholen? So intensiv kann ich doch gar nicht leben, um all‘ die verlorene Zeit aufzuholen. Oder?“

„Dann mache ich wohl wirklich alles allein. Rechtmachen kann ich es so oder so niemandem. Jule mit Bizeps, Ellenbogen und erhobener Faust. Sieht gar nicht mal so schlecht aus. :)“

„Oh, der süße Duft der Freiheit, viel zu verlockend ist er. Und aufdringlich. Aber gar nicht mehr so weit weg…“

Und der August?

Ich freue mich auf:

Meinen Abflug und das nächste Kapitel. Die nächsten Kapitel. Alles, was kommt. 


Jule

Sonntag, 24. Juli 2016

Alles, was ich brauche & alles, was ich hab'

Jetzt weiß ich, was mir fehlt, permanent. Bestätigung. Anerkennung. Bewunderung. Versteht mich nicht falsch, ich will nicht um Komplimente werben, darum, ein nettes Wort zu erbetteln, das brauche ich nicht. Will ich auch nicht. Dein Mitleid will ich erst recht nicht. Aber ich möchte, dass das, was ich tue und denke und bin, Anerkennung findet, in gewisser Weise. Versteht mich nicht falsch, ich will nicht jedem gefallen und es nicht jedem recht machen. Das erst recht nicht. Ich will ich sein und anecken und randalieren und abstoßen. Will, dass über mich gelästert und hergezogen wird. Dass über mich geredet wird. Ich will Spuren hinterlassen.

Ich wollte dir gefallen, von Anfang an. Am Anfang? War das unbeabsichtigt. Ich habe dir gefallen und ich habe nicht verstanden, wieso. Wieso du fasziniert warst von mir. Wieso ich anders sein sollte als all‘ die anderen. Was kann ich denn? Na, eine ganze Menge. Ich kann schreiben, glaube ich, denke ich, ich kann denken, größer als andere, bunter. Ich kann albern sein, verrückt und kindisch, lachen, bis mir die Tränen kommen. Ich kann kreativ sein, malen, zeichnen, ich kann die Brücke und den Kopfstand und 15 Liegestütze und literweise Kaffee trinken. Ich kann reden, wenn ich will, wenn ich will, kann ich das sogar ziemlich gut, kann dich mit Argumenten niederstrecken und mit Redeschwallen lahmlegen. Ich kann gut auswendig lernen, kann mich leicht begeistern, kann andere damit begeistern und mitreißen und motivieren. Wenn ich will. Oder vielmehr: Wenn es passt. Und mit dir? Passt es nicht.

Jetzt weiß ich, was jedem manchmal fehlt. Bestätigung. Anerkennung. Bewunderung. Versteht mich nicht falsch, man braucht das nicht, nicht permanent. Man kann sich auch selbst gut loben, hab‘ ich grade schon gemacht. Aber ab und an tut es gut, zu merken, dass das, was man tut und denkt und ist, Anerkennung findet. Und dass das, was fehlt, was aneckt, was nervt, stehen bleiben kann, sein kann, wie es nun mal ist, wie du eben bist. Gesamtpaket. Ab und an tut es gut, bewundert zu werden. Ich sehe es doch, an deinem Blick, stolz und unsicher zugleich. Auf Rückmeldung wartend, auf positive natürlich. Was sagst du dazu? Findest du das gut? Findest du mich gut?

Du hast mir gefallen, von Anfang an. Am Anfang? War das so leicht. Du hast mir gefallen, ich war fasziniert und wusste nicht einmal wieso. Ich wusste nur, dass du anders bist als all‘ die anderen. Ruhiger, kritischer, aufmerksamer. Aber sonst, was kannst du denn? Vieles, was ich nicht kann, vieles, was mir zeigt, was ich nicht bin und niemals war und niemals sein werde. Du zeigst mir meine Grenzen auf. Durch alles, was du sagst und tust und bist, wird mit meine eigene Unzulänglichkeit und mein eigenes Unwissen bewusst. Das tut nicht gut, das tut weh, das macht neidisch. Und dennoch: Es ist wichtig, mit sich selbst konfrontiert zu werden. Spiegelbild, ungeschönt. Um sich nicht in seinen Illusionen von sich und seiner Sicht auf die Welt zu verheddern, Seilgewirr und Stolperfalle. Um sich nicht blenden zu lassen.

Jetzt weiß ich, was uns allen manchmal fehlt, dir und mir im Besonderen. Augenhöhe. Akzeptanz. Toleranz. Versteht mich nicht falsch, ein Lob tut gut, ein nettes Wort, ein Kompliment. Es tut gut, etwas zu erreichen, seine Lorbeeren und sein Lob ernten, sich in der Sonne des Erfolgs zu sonnen und stolz zu sein. Aber passt auf, damit erhebt man sich nur über andere. Kann zum Vorbild werden, zum unerreichbaren Übervorbild, kann abheben, immer höher. Arroganz, Dominanz, Intoleranz. Pass auf, dass du dich bloß nicht mehr auf mein Niveau herablässt. Du da unten, was willst du denn. Was kannst du denn. Pass auf, dass du nicht fällst.

Wir alle wollen uns gefallen, ich mir und du dir, ich dir und du mir, ich euch und ihr ihnen. Wir sind auf der Suche nach uns selbst und verlieren uns dabei. Wir sind auf der Suche nach Bewunderung und verlieren sie in unserer eigenen Selbstverliebtheit. Wir sind auf der Suche nach Halt und verlieren ihn in der permanenten Selbstlüge von unserer zur Schau gestellten Identität. Dabei müssen wir nicht gefallen und nicht suchen und nichts konstruieren, denn wir haben ein Fundament. Charakterstark und echt und nicht kopierbar. Wir haben alles, was wir brauchen. Wir haben Stärken und Schwächen und die Fähigkeit, beides zu benutzen, das ist unser Werkzeug. Wir sind eine unfertige Baustelle, die ihren ganz eigenen Charakter hat. Ecken und Kanten. Die nicht fertig ist, noch lange nicht. Wir bauen weiter.

Jetzt weiß ich, dass dir eigentlich nichts fehlt. Denn alles, was du brauchst, hast du eigentlich auch schon. Sei stolz. Auf dein Können und deinen Erfolg und deine Talente. Sei stolz. Du bist einzigartig und toll und wunderbar. Aber die anderen sind es auch. Wir sind einzigartig. Wir alle und jeder für sich. Und niemand sollte zu stolz sein, um das anerkennen zu können. Niemand sollte nicht stolz genug sein, um es für sich anerkennen zu können.


Dir fehlt es an nichts. Mir fehlt es an nichts. Und dennoch: Uns fehlt es an Liebe und Anerkennung, für uns selbst und für andere. 


Jule

Freitag, 1. Juli 2016

Bunte Kiste: die vorerst vorletzte

Auf und ab, Hoch und Tief, Heiß und Kalt, Feuer und Wasser. Gut und Schlecht. Zwischentöne?


Gefreut über: Jamaram in der Frow, meine noch vorhandenen Sprachkenntnisse, nächtliches Holzhacken und Grillen, den coolsten Flammenwerfer, Reggaeneration, Lebefrauen, Erinnerungen, Genausowiefrüher-Momente, alte Gesichter, Lagerfeuer, Glühwürmchen und einen Eiswürfel

Geärgert über: unnötigen Cocktailüberschuss, Krisen, Stress und Schlaflosigkeit

Auszüge aus meinem Tagebuch:

"Es liegt an mir, an meiner Sicht, wie ich die Dinge bewerte und einordne. Schlussendlich ist alles subjektiv, alles veränderlich, wenn ich die Perspektive wechsle."

"Und jeder läuft doch in seinem eigenen Hamsterrad. Jeder dreht sich um sich selbst. Kreisel, immer schneller. Passt auf, dass ihr nicht stolpert. Ich bin dabei, wieder aufzustehen. Passt auf, dass ihr beim Vergessen euer Selbst die anderen nicht vergesst. Ich passe auf, auf mich. Und was macht ihr?"

"Wie schnell vergisst man im Alltagsstress das, was wirklich zählt. Wie schön ist es, hier zu sein, mich nicht erklären zu müssen. Verstanden zu werden von ihr, ohne Worte. Oder mit vielen Worten, ganz egal. Gedanken, die ich teilen kann, die zu teilen mir gefehlt hat. Hab eh zu viele :)"

"Krass, so kann man sich täuschen. Dann  ist das also auch ein Vollidiot ohne jeglichen Anstand. Gut, dass ich mich nicht noch mehr geöffnet habe. Macht einen eh nur verletzlich."

"Was genau vermisse ich gerade? Einen Ort, an dem ich mich nicht beweisen muss. Wen genau vermisse ich gerade? Einen Menschen, bei dem ich mich nicht beweisen muss. Den ich nicht beeindrucken muss. Automatisch Augenhöhe und nicht diese seltsame Asymmetrie, die schon wieder alles komisch werden lässt."

"Vergleich ist zum Verzweifeln. Meine Ansprüche auch."

"Als hätte ich keine Ahnung. Ok, mag sein. Als hättest du so viel mehr Ahnung."

"(…) Aber genug? Was wäre genug? Genug um das aufrechtzuerhalten, genug um darauf aufzubauen? Das Fundament erscheint mir irgendwie doch bröckelig."

"Das war wohl der Satz des Abends: Die anderen kochen auch nur mit Wasser."


Und der Juli?

Ich freue mich auf: letzte Seiten und vorerst letzte Male

Jule

Montag, 20. Juni 2016

Ich will weg hier! Oder: Eine Ode an das Fernweh

Ich kann nicht mehr sitzen, nicht mehr lesen, nicht mehr denken. Sitze in diesem Lesesaal, das harte Holz des unbequemen Stuhls drückt gegen meinen Rücken. Die Buchstaben, kreuz und queer farbig bunt markiert, verschwimmen vor meinen Augen und beginnen zu flimmern, wie Diskolichter, die selbst Lust auf Party haben. Und mein Kopf ist voll, dröhnt, hämmernde Gedanken, die wie eine zähe, bleierne Masse zum Stillstand gekommen sind. Also würde ich ununterbrochen gegen den Betonpfeiler vor mir rennen, der mir gnädigerweise die Sicht aufs Fenster und damit auf die draußen scheinende Sonne versperrt. Habe mich eingesperrt, so aber nicht meine Gedanken. Die lassen sich nicht einsperren, müsste ich doch wissen.

Ich denke mich weg, in seine Arme, oder nein, lieber nicht. Ich denke mich weg, an einen Ort, der mir so vertraut ist wie der Geruch meines Lieblingskaffees, ein Ort, an dem die frische, klare Luft mir nicht nur die Haare ins Gesicht pustet, sondern auch träge Gedanken vertreibt. Ein Ort, an dem man das Salz in der Luft schmecken kann, Kindheitserinnerungen an jeder Ecke findet und die Freiheit auf der Zunge trägt. Diese kleine Nordseeinsel. Ich sehe mich gerade da, neben dem Elefanten-Klettergerüst, wie ich im Sand sitze, barfuß, Schuhe brauche ich nicht, das Telefon im Sand vergraben, muss hier ja nichts haben…schaue aufs Meer und sehe den Wellen zu, wie sie an meinen Zehen knabbern, wie die Ebbe die Flut ablöst und die Flut die Ebbe und alles zusammenpasst. Ich will weg hier. Ich will wieder an die Nordsee. Ich muss jetzt leider weiterschreiben, nicht an diesem Roman, nein, zuerst mal an meiner Bachelorarbeit. Ich träume einfach viel zu gern, träume mich weg.


Ich atme tief durch, tanke den abgestandenen Sauerstoff in diesem Raum, setze mich kerzengerade hin und starre angestrengt auf mein bisher eher dürftiges Werk. Na komm schon Jule, konzentrier‘ dich, du bist die einzige, die unproduktiv ist. Denke es und lasse meinen Blick durch den Lesesaal schweifen. Angestrengte Gesichter, gerunzelte Stirnfalten und Köpfe, über Riesenwälzer gebeugt. Komisch, dass noch kein Qualm zu sehen ist. Wieso auch muss ich den Lesesaal Recht als mein Wohnzimmer auserwählen, nur fleißige Juristen hier. Wo die wohl herkommen, was die wohl erlebt haben, wo die wohl hinwollen…ich höre geflüsterte spanische Wortfetzen hinter mir und muss unwillkürlich an das verregnete Sevilla denken, an Fußbäder, an Tapas, an Orangenbäume…qué pena, dass ich jetzt nicht einfach viva la vida kann. Ich runzele ebenfalls die Stirn, schließe entschlossen den Ordner, in dem sich die ganzen, mit Erinnerungen an andere Orte vollgeladenen Bilder befinden und mache mich wieder an die Arbeit. Wie viel Uhr ist denn? 16:34 Uhr…20.Juni…Oh, schon bald Ende Juni…oh, schon bald fliege ich.

Endlich, endlich weg hier! Ungeduldig rutsche ich auf meinem Stuhl hin und her, der nicht bequemer werden will. Ich will, ich will weg hier! Weg von dem Stress, dem täglichen Alltagstrott, den Leuten hier, von denen viele in ihrer Sichtweise so eingeschränkt, in ihrer Meinung so festgefahren sind. Flucht. Flucht nach vorne, Alltagsflucht. Ich habe mich gefragt, ob ich mit meiner Reiselust denn vor etwas weglaufen will. Ob es mir hier nicht gut geht, etwas schief läuft in meinem Leben. Aber nein, es passt alles, alles ist an seinem Ort, nur ich bin nicht an meinem Ort. Denn ich habe keinen, will keinen haben. Es läuft alles, läuft alles gut, läuft in geregelten Bahnen. Und ich will eben ab und an und eigentlich manchmal auch oft daraus ausbrechen. Will Loopings und Hopser und durchgeschüttelt werden. Ich hasse Achterbahn fahren, mag auch keine krassen anderen Fahrgeschäfte, ich mag jedoch Kulturschocks. Ich mag es, irritiert zu sein, weil ich das Verhalten anderer Menschen nicht verstehe. Mag es, neue Traditionen und Sitten zu entdecken, neue Sprachen zu lernen. Ich mag es, eine andere Welt kennenzulernen, unsere Welt, meine Welt anders zu sehen. Und mich dann wieder neu einordnen zu müssen, neu zurechtfinden, in dem, was zuvor vertraut war. Das kann anstrengend sein, ist gleichzeitig unglaublich bereichernd. Horizont erweiternd.


Das ist das Problem mit dem Reisen. Es macht süchtig. Und ich bin gerade auf Entzug und leide. Aber nicht mehr lange, dann bin ich wieder weg! Und bis dahin tun es auch diese kleinen Alltagsträume, in denen ich mal wieder an der Nordsee bin…und wo treibst bzw. träumst du dich rum? :)


Jule

Mittwoch, 1. Juni 2016

Bunte Kiste: Mai 2016

Atemnot und Stillstand. Leerlauf und laufen lernen, laufen lassen. Stop-Taste, Pause, nie wieder Repeat. Diesunddasananas.


Gefreut über: Krankenbesuche, Tulpen und andere Blumen, so viel Hilfsbereitschaft, Düfte, Gerüche und meinen Geschmackssinn, DVD- und Film-Abende, Deluxe-Salat und Pseudo-Steaks, ein interessantes Seminar, mein Thema, gelatinefreie Gummibärchen, illegalen Sport, ein wenig mehr Symmetrie, ganz viel Sonne und Musik und Seifenblasen und Leichtigkeit. Festivalstimmung.

Geärgert über: mein Immunsystem, Busfahrten und Enttäuschung

Auszüge aus meinem Tagebuch:

"Ja, ich weiß auch nicht, was das soll. Ich glaube, es kann gar nicht mehr anders als oberflächlich sein. Alles andere geht nicht mehr, oder? Alles andere war doch so viel wertvoller."

"Wir setzen künstliche Filter, an den unterschiedlichsten Stellen, um uns irgendwie entscheiden zu können. Qual der Wahl, Übermaß an Möglichkeiten. Zu viel, zu schnell, zu gut geht es uns."

"Wie viel Kontrolle tut mir, tut dir, tut uns gut?"

"Da werde ich einfach als Weltverbesserin bezeichnet. Uh, ganz schön viel Verantwortung."

"Ich mag keine halbe Sachen. Entweder ganz oder gar nicht. Aber muss ich wirklich komplett geflasht sein, um mich dafür entscheiden zu können? Muss ich erst etwas, muss ich ihn erst hassen, um mich umdrehen zu können? Muss erst etwas, muss ich ihn erst lieben, um mich darauf einlassen zu können? Es ist nicht alles Schwarz und Weiß. Das Leben ist grau. Und bunt. Und manchmal nur grau, manchmal nur bunt und manchmal alles zusammen. Und dann ist es eben diese komische Mischfarbe, deren Elemente ich nicht mehr ausmachen kann und dann sollte ich diese Versuche alles zu ordnen eben lassen und mich mit dieser Mischfarbe anfreunden. Sieht vielleicht seltsam aus, schmeckt aber eigentlich ganz gut. Schmeckt eigentlich ziemlich geil. Schokolade ist ja auch braun."

"Vermutlich sollte ich aufhören, mir Dinge vorzustellen, auszumalen, mit Buntstiften. In meiner Fantasie leuchten die Farben irgendwie heller, in echt war dieses Wiedersehen doch irgendwie ernüchternd. Blass und verwaschen, vom Regen und allem, was die Realität hässlich macht."

"Vielleicht red‘ ich mir inzwischen nur ein niemanden zu brauchen aus Angst, wieder einmal zu merken, dass niemand zu mir passt oder vielmehr ich zu niemandem passe. Stehe wieder am Rand, beobachte, gehöre nicht dazu. Außenseiterin,  Einzelkämpferin, Gegenstromläuferin. Bin überall dabei und bin es nicht. Gehöre zu ihm, zu ihr, zu ihnen und tue es nicht. Und das ist nicht einmal meine Intention, das passiert automatisch, das war schon immer so. Und frage mich, warum ich mich nie zugehörig fühle, weder einem Ort, noch einer Gruppe, erst recht nicht einem Menschen."

"Gib‘ mir ein bisschen Sonne, ein bisschen Bier und den richtigen Beat, dann werd‘ ich übermütig. :)"

"Vielleicht sollte man manches einfach nicht ausreizen. Vielleicht lieber manches offen stehen lassen, mit Fragezeichen und Platz für Hypothesen."

"Und schon wieder. Die Realität war farbloser als meine Tagträume dazu. Sind das nur meine zu festen, zu hohen Erwartungen?"

"Das ist wohl passiert, weil ich wollte, dass es passiert. Ich weiß, was ich will und wie ich es bekomme, meistens. Das hat sich aber so angefühlt, als würde ich das wilde Leben in eine vorgefertigte, betonierte, gerade Bahn zwängen wollen. Weil ich wollte, dass es genau so verläuft und genau so hat es sich dann nicht mehr passend angefühlt. Wäre es besser gewesen, ich hätte nichts gewollt und nichts versucht und nichts wäre passiert?"

„Jule, du bist so blöd.“ – „Ich weiß. Du bist auch nicht besser.“ Wir schauen uns an und müssen lachen, so lange, bis sich die Dummheiten der letzten Nacht nicht mehr so dumm anfühlen und der verrückte Leichtsinn, der uns beide manchmal packt, alles zu rechtfertigen scheint. Immerhin wird uns so nicht langweilig, immerhin spielen wir so nicht immer in diesem System mit, brechen manchmal aus, sind ein wenig wagemutig und überdreht und übermütig. Sind hoffentlich nicht gänzlich unverbesserlich. ;)


Und der Juni?


Ich freue mich auf: Sommersprossen, Sommerregen, Sommersonnenlaune. Auf ziemlich viele Wiedersehen und Städtetrips, kleiner werdende Bücherberge, Cocktails, Campusfest, legalen Sport und durchtanzte Nächte

Jule

Freitag, 20. Mai 2016

Entscheide dich!!! Oder: Was wollen wir eigentlich?

Was machst du heute Abend? – Weiß noch nicht, mal schauen. Je nachdem, wonach mir ist. Entscheide ich spontan.

Festlegen, für was?

Kommst du in drei Wochen mit aufs Konzert von abc? – Weiß noch nicht, mal schauen. Da wäre eigentlich noch die Party von xyz und eigentlich wollte ich noch neue Städte erkunden und eigentlich wollte ich sparen…kann ich das spontan entscheiden?

Festlegen, für wen?

Und dann, dann bist du fertig, Bachelor. Was willst du  machen? – Hm, gute Frage. Erstmal reisen und vielleicht arbeiten, vielleicht ein Praktikum. Mal schauen, was sich so ergibt eben.

Festlegen, wozu?

Ist das euer, ist das unser Ernst?

Niemand kann, niemand will sich festlegen. Treffen auszumachen wird immer schwieriger, immer schwieriger zu planen. Für jemanden, der gerne plant, fällt das natürlich sofort auf, wird das natürlich kompliziert. Aber auch für alle anderen. Auch wenn es praktisch ist, sich im letzten Moment für oder gegen etwas oder für etwas ganz anderes entscheiden zu können, für alle anderen ist es ziemlich anstrengend. Kann man auf dich zählen? Kann man dich mit einplanen? Sollte man sich Zeit freihalten?

Ich will mir nicht ein ganzes Wochenende freihalten, nur damit wir uns an einem Abend eventuell ganz vielleicht spontan sehen können. Ich will nicht auf deinen Anruf warten, der dann kommt, wenn es dir gerade passt. Ich will auch nicht jeden Tag, jede Stunde meines Lebens durchplanen. Aber ich will ein bisschen Beständigkeit und ein wenig Zuverlässigkeit und merke gleichzeitig, dass mir selbst das immer schwerer fällt.

Was, wenn sich mir im letzten Moment eine viel bessere Option bietet? Wenn ich dann schon anderweitig zugesagt habe? Etwas verpasse?
Was, wenn ich ihr zusage, er dann aber doch Zeit hat? Will ich ihn nicht so viel lieber sehen? Aber will ich ernsthaft auf ihn warten?

Was willst du eigentlich?

Das ist wohl die wichtigste Frage. Ich will reisen, etwas von der Welt sehen, Berufserfahrung sammeln, etwas Geld verdienen, ich will all‘ das und noch viel mehr, am besten auf einmal. Zu viel? Vielleicht ja nicht, vielleicht lässt sich das alles kombinieren, aber dafür muss ich planen, überlegen, etwas tun. Mich bewerben, mich informieren und mich festlegen. Vielleicht nur auf eine Option, vielleicht nicht die beste, vielleicht eine, die sich als die beste erweist. Von nichts kommt nichts, wohl wahr. Das schließt nicht aus, dass sich durch einen glücklichen Zufall eine Möglichkeit ergibt, mit der man zuvor nicht gerechnet hat, die man nicht einkalkuliert hat. Und ja, dann sollte man vielleicht kurzentschlossen genug sein, diese Möglichkeit zu ergreifen, ohne wirklich darauf vorbereitet zu sein. Ins kalte Wasser springen. Und nach dem ersten Kälteschock neu schwimmen lernen, auf zu neuen Ufern eben.

Was willst du eigentlich?

Ich will einen coolen Sommer erleben, Spaß haben, Zeit mit Freunden und mir selbst verbringen, das Leben genießen, ihn wiedersehen. Das wollt ihr auch, nicht wahr? Aber spielt der Ort wirklich noch eine Rolle dabei? Oder das, was man macht? Eigentlich ist fast jedes Gespräch mit dir, egal, ob im Bett, im Auto oder auf einer Parkbank, eine größere Bereicherung als jedes Konzert, jedes Festival und jeder Städtetrip. Der Tag ist doch schon ausgefüllt mit dir und mir, dazu braucht es keinen Schnickschnack. Und wenn ich Lust auf Gesellschaft habe, dann ist es egal, wo und was wir machen, Hauptsache wir verbringen Zeit miteinander. Und wenn ich dich wiedersehen will und weiß, dass ich das will, dann fahre ich auch durch das halbe Land und dann plane ich das auch und kann es gar nicht bereuen, kann nichts anderes verpassen. Weil ich weiß, dass ich das will.

Was willst du eigentlich?

Heute Abend? Da habe ich keine Zeit, habe ihr versprochen, dass wir uns sehen. Morgen? Da bin ich verplant, gehe ins Kino. Übermorgen? Da will ich mir einen gemütlichen Abend machen, nur ich. Egal, wofür oder für wen oder für was ich mich festlege: Das ist kein Arbeitsvertrag. Oder noch schlimmer, das ist auch kein Ehevertrag. Ich kann immer noch absagen, mich umentscheiden, etwas ändern, kann immer noch Zurück, wenn es denn notwendig ist oder wenn es nicht anders geht oder wenn es darum geht, was mir gut tut. Letzteres kann von Tag zu Tag verschieden sein, klar, aber normalerweise wissen wir doch, was uns gut tut. Normalerweise weiß ich, was ich will. Und klar, manchmal will ich mich bewusst nicht festlegen, will alles auf mich zukommen lassen, will ein bisschen überrollt und vielleicht überrascht werden. Aber manchmal will ich auch einfach noch die uns verbleibende Zeit hier mit euch genießen und das erfordert eben ein wenig Planung. Manchmal will ich auch einfach viel zu viel.

Was will ich eigentlich?

Ich will meinen Weg gehen, mein Ding machen. Aber mit Rücksicht auf andere. Ich will etwas bewirken, ein bisschen zumindest. Glücklich werden, andere glücklich machen. Und das ist manchmal einfacher als man denkt. Dazu braucht es oft keinen Poetry-Slam, kein Konzert, keine Party. Nichtmal Schuhe oder Schokolade. Glück kommt mit relativ wenig aus, braucht keinen Schnickschnack. Nur deine Aufmerksamkeit. 

Das heißt, wir können uns alle dem Moment widmen, den wir gerade echt und real erleben und müssen nicht in Gedanken Terminkalender wälzen, können Fragezeichen ausradieren, die uns dazu bringen unsere Entscheidung für diese eine Option anzuzweifeln und sie zu bereuen. Es gibt keine bessere Option, es gibt nur den besten Umgang mit deiner Entscheidung. Und dann vielleicht den besten Moment. 


Jül