Sonntag, 17. Januar 2016

Karussell des Lebens


Oder: Das Leben ist eine Sinuskurve



Da sitze ich stolz, throne wie eine Prinzessin auf dem Einhorn und klammere mich an die kratzige Mähne. Meine Finger verkrampfen sich fast in den rauen Borsten, ich bin aufgeregt, warte darauf, dass es losgeht. Ein Grinsen kann sich nicht davon abhalten, mein Gesicht zu belagern, ich liebe Karussellfahren, schon seit ich denken kann, vielleicht schon bevor ich laufen konnte. Dieses Einhorn habe ich mir hart erkämpft, groß war die Konkurrenz, aber selbst in meinem Kleidchen und mit meinen Lackschühchen war ich schneller als das doch etwas dickliche Mädchen neben mir. Das sitzt auf einer knallgelben Ente. Zufrieden mit meinem Sprint und meiner Wahl ziehe ich mir den letzten Rest Zuckerwatte aus dem Mundwinkel und wische mir die klebrigen Finger am Spitzensaum meines Kleids ab. Das mag ich eh nicht. Wieso auch muss mich meine Mama immer in solche Dinger stecken? Besagte steht ein paar Meter von mir neben der Kasse inmitten einer kleinen Menschentraube aus stolzen Müttern und winkt mir mit der Kamera zu. Oh nee, keine Fotos. Darüber kann ich mir jetzt aber keine Gedanken mehr machen, das Karussell setzt sich ruckartig in Bewegung und nimmt Fahrt auf. Die bunten Farben um mich herum fangen an sich zu vermischen, ergeben Streifen und Linien und es gibt nur mich auf meinem Einhorn, fast heben wir ab, fast kann ich fliegen.

Höhenflug, leicht und unbeschwert. Das Leben ist aus Zuckerwatte, süß und fluffig. Ich liebe solche Momente. Momente, in denen du vergisst, wer du bist, weil du einfach bist, wer und wie du bist. Ohne dich oder irgendwen oder irgendetwas sonst zu hinterfragen. Meistens checkst du gar nicht, wie genial dieser Moment eigentlich war, weil du da einfach glücklich warst. Der Moment hat dich eingepackt und eingewickelt, in Zuckerwatte natürlich. Hat dich mitgerissen mit all seinen Farben und Gefühlen, rosa, bunt und mit Glitzer natürlich. Keine Zeit nachzudenken. Sowas ist gigantisch. Und passiert manchmal viel zu selten. Aber dann leuchtet diese eine Aufnahme deinen Tag hindurch, manchmal Monate, manchmal kannst du dich dein ganzes Leben an diesen einen Moment erinnern. Vermutlich weil er glitzert.

Das Karussell dreht sich immer schneller, ich gluckse vor Freude und sehe nur noch Regenbögen, ganz, ganz viele, schließe die Augen und sehe mich durch die Lüfte fliegen, unter mir endlose Wälder, saftig grüne Wiesen, sanfte Hügel. Beinahe wird mir schwindelig, also blinzele ich kurz und öffne meine Augen doch wieder, will schon fast meine Arme loslassen, ausstrecken, doch da stoppt mein Einhorn plötzlich. Hä, schon vorbei? Verwirrt blicke ich um mich und sehe, wie andere Kinder aus ihren Fahrzeugen und von ihren Flugtieren steigen und auf ihre Mütter und Väter zulaufen. Tränen steigen mir in die Augen und tropfen auf die weißen Borsten der Einhorn-Mähne. Das ging viel zu schnell vorbei!

Tja, so ist das mit diesen Momenten. Man merkt erst hinterher, dass man in diesem einen Augenblick glücklich war, dass man in diesem einen Augenblick keine Sorgen hatte, sie vergessen hatte, seine Umwelt vergessen hatte. Und wenn man sich dessen bewusst wird, ist man wieder auf dem Boden der Tatsachen gelandet. Alltag. Weitermachen. Lernen. Termine. Verpflichtungen. Das Rad dreht sich weiter, zu schnell manchmal für uns, wir laufen mit. Hamsterrad. Laufen mit und stolpern manchmal, laufen schneller, immer schneller, um Schritt halten zu können. Und die Zeit rast an uns vorbei, ohne dass wir besonders glücklich oder besonders unglücklich sind. Ja, auch solche Abschnitte gibt es, das Leben läuft in geregelten Bahnen, manchmal schneller, manchmal langsamer, unspektakulär. Das kann gut sein, geordnet, gibt Sicherheit. Aber pass auf, dass das Leben nicht an dir vorbeizieht! Sorge dafür, dass du in deinem eigenen Tempo läufst. Dass du dich auch mal aus dem fahrenden Zug lehnst, du musst ja nicht gleich springen. Aber ein bisschen frischer Wind kann manchmal nicht schaden, pustet Sorgen weg, macht den Kopf frei.

Ein paar Jahre sind vergangen. Ich bin älter, größer, groß genug, um mit der höchsten Achterbahn fahren zu dürfen. Und ich fühle mich doch zurückversetzt, klammere mich an die Metallstange vor mir, panisch diesmal. Und wünschte, sie wäre die Mähne eines Einhorns. Langsam, quälend langsam wird mein Wagen nach oben gezogen. Wieso auch musste ich mich ganz vorne hinsetzen. Dieses Mal bin ich nicht ganz so glücklich mit meiner Platzwahl. Es hat über 30 Grad, aber mich fröstelt, hier oben weht ein kalter Wind. Ich zwinge mich, nach unten zu schauen, wo der Freizeitpark aussieht, als wäre er zum Spielen da und die Menschen, als wären sie nur Playmobilfiguren. Da wirken die Wolken über mir noch greifbarer. Schade, dass sie nicht rosa und aus Zuckerwatte sind, denke ich mir gerade und bekomme nicht mit, dass wir den höchsten Punkt der Achterbahn erreicht haben und mein Wagen nicht mehr gezogen wird. Ich bin nicht darauf gefasst, in die Tiefe zu stürzen. Unerwarteter Fall.

Ich falle, falle tief und lande hart. Ich wusste es. Ich wusste, dass es so kommen muss, irgendwann. Ich war darauf vorbereitet, dachte ich. Und dann trifft es mich hart, härter als gedacht. Schmerzen, alles tut weh, fast schon körperlich. Kann nicht mehr aufstehen. Lasst mich liegen. Das ist mein Abgrund, mein eigener Graben. Ihr könnt mir nicht helfen. Ihr sollt mir nicht helfen. Das hier ist meine Misere, ihr versteht mich nicht, fühlt nicht so wie ich. Nackter, kalter Boden. Ich liege hier, starre ins Schwarze und bin unfähig mich zu bewegen. Wie geht das?

Ein paar Monate sind vergangen. Ich bin nicht älter, nicht größer, aber definitiv mehr ich. Und weiser natürlich, ich merke förmlich, wie ich andere Menschen belächeln muss und mir vorstelle, dass meine Haare eigentlich schon ergraut sein müssten. Spaß beiseite, oder vielmehr: Her mit dem Spaß. Ich kann immer noch Kind sein, kann es wieder sein, immer wieder. Ich kann mich um mich selbst drehen, kann mein eigenes Karussell und meine eigene Sommersonne im Winter sein. Ich kann mich aus dem Fenster lehnen, weit, kann springen und hoffen, dass mein aufgespannter Regenschirm den Fall bremst. Ich kann stolpern und stürzen, weil ich weiß, dass es helfende Hände gibt. Hände, die mich mitreißen, hochreißen, stützen, umarmen. Ich kann weinen und liegen bleiben, ein bisschen, weil ich weiß, dass das dazugehört, dass nicht alles Zuckerwatte ist. Ich kann traurig sein und gleichzeitig lächeln dabei, weil ich weiß, dass es vorbeigeht, süßer schokoladiger Schmerz, der bei den nächsten Sonnenstrahlen schmilzt. Und ich kann lachen, herzhaft, bis dass mir die Tränen kommen, am besten über mich selbst. Weil es unglaublich befreiend ist und mir die Absurdität des Lebens genug Impulse präsentiert. Nicht nur mir.


Auch dir, denn das Leben ist eine Achterbahn, es geht auf und ab, das Leben ist eine Karussellfahrt, macht unglaublich viel Spaß und dreht sich immer weiter, auch wenn es keinen Spaß macht. Das klingt ein wenig platt und ist sicherlich keine neue Erkenntnis. Jedoch sollte man sich besonders in den Situationen, die einem hoffnungslos erscheinen, daran erinnern. Dass Tiefpunkte dazugehören und dass man an ihnen wachsen kann, egal wie schrecklich und ausweglos sie zuerst erscheinen mögen. Die schmerzhaftesten Lektionen sind immer die lehrreichsten. Zwei Schritte zurück bedeuten nicht unbedingt Rückschritt. Stillstand bedeutet nicht unbedingt Sackgasse. Manchmal braucht es einen Rückschlag, um uns zu zeigen, was wirklich wichtig ist, um uns zu einer Pause zu zwingen oder um Kräfte zu entwickeln, die wir an uns oder vielmehr in uns nie für möglich gehalten hätten und die es uns ermöglichen, wieder aufzustehen und wieder Fahrt aufzunehmen. Immer schneller, kraftvoller als zuvor, bis zum nächsten Höhenflug. Der ist dann umso schöner, vergleichsweise. Vielleicht auch länger, kommt auf die Einhornrasse drauf an. :)


Jule



Freitag, 1. Januar 2016

Bunte Kiste: Dezember 2015

Genießen, alles, alles ein bisschen zu viel. Glücksmomente. Freundschaft. Ehrlichkeit. Schock. Trauer. Vertrauen. Wut, Schmerz, Abstand. Bewusstsein. Klarheit.



Gefreut über: Café-Lila-Abende, gute Gespräche und gute Gedanken, einen Poetry-Slam, nächtliches Nüsse knacken, unsere Ausstellung, beste Freunde, mein Durchhaltevermögen, einen Lachkrampf, Kastanienbraten, einen Kurztrip nach „Italien“, Sonne, Waldspaziergänge, hässliche Plätzchen, Bastelzeit, einen Chile-Abend, Entspannung, Zeit mit Schwesterherz und Zeit für mich

Geärgert über: Träume, Nebenwirkungen, Lavendel, Asymmetrie, darüber, dass ich nicht einfach einen Knopf drücken kann und die Zuschreibung dieser uralten Rolle, die ich definitiv nie wieder einnehmen werde

Auszüge aus meinem Tagebuch:

„Da bahnt sich etwas an, Donnergrollen. Und ich stehe da, freue mich auf die ersten Blitze, dass sie einschlagen und diese verdammte Geschichte kaputtmachen. Dass es brennt, lichterloh. (...) Und ich stehe da und genieße, Dekadenz der Zerstörung.“

„Wie tötet man Hoffnung?!“

„Kann mal jemand bitte meine blühende Fantasie kanalisieren? :D“

„Ich schenk‘ mich doch nicht her. Nö.“

„Wie kostbar so ein Menschenleben doch ist und wie oft wir damit spielen, mit unserem Leben, unachtsam, wie ich mit meinem Leben schon gespielt habe. Und dann kann es so schnell gehen und alles ist vorbei, viel zu schnell, viel zu jung war er. Dankbarer sollten wir sein, für unser Leben, das, was wir haben, die Menschen, die wir um uns haben und dankbar, für jeden Moment, den wir erleben, bewusst sollten wir erleben, sollten leben.“

„Dafür gibt es keine Worte, keine Worte, die erklären, trösten, helfen. Nur Gesten, vielleicht.“

„Endlich sehe ich das auch so, sehe mich so, so wie es sein sollte. Meistens, nicht immer. Aber so oft, dass es mir auffällt, positiv, und anderen anscheinend ebenfalls. „

„War ja klar. Worauf warte ich noch? Das war der Startschuss für das Ende.“

„Ein Endspurt kostet am meisten Kraft. Ich habe noch Energiereserven, erstaunlicherweise.“

„Hör‘ nie auf zu träumen, denn Träume zeigen dir, was möglich ist, zeigen es dir schillernd und bunt wie Seifenblasen. Hör‘ nie auf zu träumen, denn Träume lassen sich realisieren, können greifbar werden, wenn du es willst. Träume platzen, sind wie Seifenblasen, leicht, leicht zu zerstören. Also komm, greif‘ danach, lass aus Seifenblasenträumen Wirklichkeit entstehen und bau dir deine Realität.“

„Was ist ein Mensch ohne Träume? Eine Hülle, eine Blase, Seifenblase, die nicht schillert.“

„Wieso nur müssen wir immer und immer wieder diesen Machtkampf austragen, seit Jahren. Der zu nichts führt und allen Beteiligten viel zu viel Kraft kostet.“

„Ich dachte immer, es gibt nicht nur Schwarz und Weiß. Ich dachte immer, es gibt genug dazwischen, Grautöne, Grauzonen. Ich dachte immer, bei dir wäre eh alles anders. Und merke, ich habe mich geirrt.“

„So schließt sich der Kreis. Jedes Puzzleteil ist an seinem Platz. Ich habe gesucht und geflickt und alles zusammengesetzt. Kann ich das so stehenlassen? Kann ich ihn so stehenlassen? Kann ich mich umdrehen und nicht mehr zurückblicken?“

„Vergib dir für alles, was war. Bereue nichts. Sei dir bewusst. Vertrag dich mit dir selbst. Wage, wieder und wieder. Dreh dich nicht um, schau nach vorn. Geh niemals mehr zurück. Alles liegt vor dir, freu dich drauf. Das klingt als müsste ich mich beschwören.“

„Was bleibt? Leere, Beklemmung, Wut. Auf mich und das Leben. Von Befreiung keine Spur.“

„Ich hatte mir das anders vorgestellt, einfacher. Und vor allem schmerzfreier.“



Und der Januar?


Ich freue mich auf: Snowboarden (ja, jetzt wirklich :D), Zeit mit Freunden und mit mir. Ein neues Kapitel, ein neues Jahr und alles, was es für mich bereithält.

Jule