Freitag, 18. September 2015

Die Kunst des Loslassens

Ich kann gut zeichnen, malen, schreiben. Kann gut nachdenken, reflektieren, philosophieren. Ich kann gut planen und organisieren, kann gut fantasieren. Ich kann nicht loslassen, kann es nicht gut sein lassen.

Menschen um mich, ich in der Menge, ich sehe rot, sehe rote Menschen, eine rote Menschenmenge. Künstler, Artisten, Jongleure, ein Festival der etwas anderen Art und ich mittendrin. Bin aufgedreht. Kichere albern und schieße tausend Fotos, knipse wild um mich, drehe mich wild um mich. Er lacht, lacht mich ein bisschen aus. Freut sich über meine Freude, er passt auf, dass ich in meiner Euphorie nicht stolpere, nicht gegen Menschen und Dinge renne. Ich will mittendrin sein, nein, ganz vorne. Ich will auch einen Luftballon, einen roten. Die werden aber nur auf der anderen Seite verteilt, sowas Ungerechtes. Ich springe, winke, kreische und dieser rote Stelzenmann bemerkt mich. Bemerkt mich, grinst und gibt mir einen Luftballon, den letzten. Vor Aufregung lasse ich fast meine Kamera fallen. Warte auf den Countdown. Halte ihn fest, ein bisschen krampfhaft. Spüre wie die Schnur in die Haut meiner Finger einschneidet, das sanfte Gewicht des Ballons, der frei sein will. 5…4…3…2…1…


Ich kann gut zeichnen, malen, schreiben. Kann gut nachdenken, reflektieren, philosophieren. Ich kann gut planen und organisieren, kann gut fantasieren. Ich kann nicht loslassen, kann es nicht gut sein lassen.

Menschen, die ich festhalten will, Erinnerungen, Gefühle. Vergangenes. Ich möchte all das Schöne, was ich erlebt habe, für immer konservieren. In Gläser füllen und bei Bedarf herausholen, Deckel auf, riechen, eintauchen. Marmeladenglasmomente. Ich möchte die letzte Reise festhalten, den Sonnenuntergang, den Sommerabend dort und diese eine Nacht, gute Gespräche, dein Lächeln, das Gefühl stolz auf mich sein zu können, das Gefühl angekommen sein und Glücksmomente. Aber all diese Momente sind vergangen, kommen nicht wieder. Und wenn ich all das festhalten möchte, tue ich mir vielleicht selbst keinen Gefallen. Dann bin ich abhängig von der Vergangenheit, von Vergangenem, beraube mich meiner eigenen Freiheit. Schränke mich ein. Vergleiche. Erwarte. Werde enttäuscht. Denn all diese Momente werden nicht wiederkommen, all die kommenden Reisen, Sommerabende, Nächte, Gespräche und Glücksmomente werden anders sein. Und das ist auch gut so. Sie sind einzigartig. Alles, was war, war besonders und alles, was kommend wird, wird anders, anders besonders sein. Und es werden andere besondere Momente kommen, ich muss nur offen dafür sein. Und das bin ich wohl nur, wenn ich loslasse.

Menschen, die ich nicht festhalten kann. Und es auch nicht sollte. Beziehungen, die mich einschränken. Mir die Luft zum Atmen nehmen. Ballast abwerfen. Ja, ich halte fest, halte Menschen fest, halte mich an Menschen fest. Mir ist das wichtig, mir sind diese Menschen wichtig, der Kontakt zu ihnen, egal wo und wie. Aber wenn nur ich Kontakt halte, nur ich festhalte, dann wird das anstrengend. Dann muss ich loslassen, versuchen zu akzeptieren, dass Menschen sich verändern. Dass Freundschaften sich verändern, vielleicht keine Freundschaften mehr sind und ich sie gehen lassen sollte. Das ist traurig, aber diese Menschen und Momente gab es, sie waren schön, schöne Erinnerungen. Und das Jetzt wird zu neuen Erinnerungen mit neuen Menschen, neuen Momenten. Ungewissheit.

Ich lasse los. Lasse den Ballon fliegen, sehe ihm hinterher, wie er aufsteigt, hochgetragen wird von Luft, Wind und Helium. Sehe tausend andere Ballons, rote Tupfen am wolkenverhangenen Himmel, sehe wie sie kleiner werden, immer kleiner. Marienkäferhimmel.

Ich kann gut zeichnen, malen, schreiben. Kann gut nachdenken, reflektieren, philosophieren. Ich kann gut planen und organisieren, kann gut fantasieren. Ich kann nicht loslassen, immer noch nicht. Es war einfach, den Luftballon steigen zu lassen und mir vorzustellen, das immer so zu machen. So einfach ist es nicht. Aber vielleicht muss ich gar nicht aufhören an allem festzuhalten, um loslassen zu können, vielleicht reicht es, Veränderung zu akzeptieren und darauf zu vertrauen, dass andere schöne Momente bevorstehen. Ungewissheit. Man weiß nie, was kommt und es kommt immer anders. Da tut es gut zurückzudenken, was man geschafft hat, dass man es immer irgendwie geschafft hat. Festhalten gibt Sicherheit. Loslassen schenkt Freiheit. Und nein, das schließt sich nicht aus ;)


Jule

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