Die Tür geht auf, jemand sitzt bereits an dem langen Tisch.
Sie hebt den Blick und ich denke mir: He, die kenn' ich doch. So trifft man sich
wieder, zufällig, in einer anderen Stadt, einem anderen Land, einem anderen
Zusammenhang. Nicht immer erfreulich, aber immer eine Überraschung. Und der,
der so wahnsinnig hilfsbereit ist, der ein Lächeln hat, das Nähe schafft, er
erzählt mir, wie er hierhin gekommen ist. Und erwähnt dabei den, den ich mit
dieser Stadt, dieser Erfahrung verbinde. Vermutlich der einzige, der mir in
dieser Zeit nahekommen durfte. Und wir, verschiedener könnten wir nicht sein,
kennen ihn beide. Schon wieder Nähe, eine neue. Nein, diese Zufälle liegen
nicht nur daran, dass Brüssel eine Multikulti-Stadt ist, nicht daran, dass im
EU-Parlament jedes Land und jede Region Europas vertreten ist und auch nicht
daran, dass die Organisation Arche eine internationale ist. Schon eher liegen
sie daran, dass viel über Mund-zu-Mund-Propaganda funktioniert. Und am meisten
liegen sie wohl daran, dass die Welt ziemlich klein ist. Handtuchgröße, wie die
Spanier zu sagen pflegen.
Ich sitze in diesem Saal, inmitten von wichtig aussehenden
Menschen. In einer Hose, die unbequem ist und mit einem Notizblock auf meinen
Beinen. Ich versuche mich so hinzusetzen, dass der Schlag meiner schwarzen
Stoffhose die Risse in meinen Schuhen überdeckt. Hier zählt der Schein. Und was
steckt dahinter? Jede Menge Informationen, die in dieser Diskussion hin und her
geworfen werden, jede Menge Worte, die ich nicht verstehe. Beschlüsse,
Gerichtsverfahren, Artikel, Gesetze. Aaah. Ich verstehe ziemlich wenig, stelle
ich fest. Merke aber auch, dass es hier noch um etwas anderes geht, darum, wie
man sich gibt, wie man wirkt, was man von sich hält und wie man es verkauft. So
naiv bin ich wohl doch nicht mehr. Und trotzdem ertappe ich mich dabei, wie ich
denke: He, das ist auch nur ein Mensch. Allerdings einer, dem sein Auftreten
wichtig ist, sein Ruf, sein Gehalt. Das, was morgen in den Zeitungen steht. Es
geht darum, die breite Masse zu beruhigen. Sie hinter sich zu bringen. So zu
tun, als wäre alles transparent. Ist es nicht, es ist undurchsichtig und
komplex, so weit bin ich schon. Allerdings verstehe ich noch viel zu wenig von
diesen Dingen, denn vermutlich ist die Welt doch ein wenig zu groß, diese Welt
zumindest.
Feierabend. Ich laufe zurück, den Weg, an dem ich beinahe
jede Hausfassade kenne, jede Stolperfalle und jeden Straßennamen. Natürlich
hilft das bei meiner fehlenden Orientierung nicht immer, dann bringe ich alle
Straßennamen durcheinander, die Himmelsrichtungen sowieso. Und wenn ich anfange
zu träumen, wird sowieso jeder Kieselstein zur Gefahr. Bin nämlich schon wieder
dabei, voll im Tagtraum. Und da ist mittlerweile ziemlich viel Platz, nachdem
ein paar Träume kategorisch nicht mehr geträumt werden, nicht mehr geträumt
werden wollen. Vielleicht mittlerweile gar nicht mehr existieren. Luftleerer
Raum ist es trotzdem nicht, denn ich träume von der Ferne. Ja, ich weiß, ich
befinde mich eigentlich gerade im Ausland. Aber das zählt nicht, das ist zu
sehr Zuhause, immer noch und jetzt wieder neu. Nein, ich will weiter weg, auf
einen anderen Kontinent, nochmal so wachgerüttelt und durchgeschüttelt werden.
Nicht im Kleinen wie letzte Woche, wie schon ein paar Mal in meinem Leben,
sondern im Großen, wie letzten Sommer, noch mehr vielleicht. Und dann denke ich
an alle Länder, die mich interessieren, an alle, von denen ich ebenfalls viel
zu wenig weiß und merke, wie ich schrumpfe. Denn die Welt ist viel zu groß.
Bei all der Vielfalt, der geografischen und kulturellen
Größe dieser Welt, der Komplexität der Themen, die diese Welt betreffen, ist es
ein Leichtes, sich klein zu fühlen, unwissend, unbedeutend, unwichtig, verloren.
Umso besser, wenn man abends irgendwohin kommt, wo es sich ein bisschen nach „Zuhause“
anfühlt. Das kann Familie sein, Freunde, nette Menschen. Das kann ein Bett
sein, mein „Nest“, dein Bücherregal. Das kann auch einfach nur man selbst sein,
mit seiner eigenen kleinen Welt. Dann schreibe ich diese Sätze, andere noch,
kritzele ein paar To-Do-Listen, trinke Ingwertee mit Zitrone und Honig oder doch
lieber Chimay bleue, ziehe meine Kuschelsocken an und die Welt fühlt sich
heimelig an. Ich habe irgendwo einen Platz, irgendwie, auch wenn ich den nicht
genau definieren kann. Der Platz ist da und ab und an stehe ich auf und gehe
umher, verlasse ihn, um in die große, weite Welt zu ziehen. Um sie
kennenzulernen, um damit anzufangen. Um mich selbst besser kennenzulernen und egal
ob im Großen oder im Kleinen, bedeutend ist es allemal.
Jule