Ich kann nicht mehr sitzen, nicht mehr lesen, nicht mehr
denken. Sitze in diesem Lesesaal, das harte Holz des unbequemen Stuhls drückt
gegen meinen Rücken. Die Buchstaben, kreuz und queer farbig bunt markiert, verschwimmen
vor meinen Augen und beginnen zu flimmern, wie Diskolichter, die selbst Lust
auf Party haben. Und mein Kopf ist voll, dröhnt, hämmernde Gedanken, die wie
eine zähe, bleierne Masse zum Stillstand gekommen sind. Also würde ich
ununterbrochen gegen den Betonpfeiler vor mir rennen, der mir gnädigerweise die
Sicht aufs Fenster und damit auf die draußen scheinende Sonne versperrt. Habe
mich eingesperrt, so aber nicht meine Gedanken. Die lassen sich nicht
einsperren, müsste ich doch wissen.
Ich denke mich weg, in seine Arme, oder nein, lieber nicht.
Ich denke mich weg, an einen Ort, der mir so vertraut ist wie der Geruch meines
Lieblingskaffees, ein Ort, an dem die frische, klare Luft mir nicht nur die
Haare ins Gesicht pustet, sondern auch träge Gedanken vertreibt. Ein Ort, an
dem man das Salz in der Luft schmecken kann, Kindheitserinnerungen an jeder
Ecke findet und die Freiheit auf der Zunge trägt. Diese kleine Nordseeinsel.
Ich sehe mich gerade da, neben dem Elefanten-Klettergerüst, wie ich im Sand
sitze, barfuß, Schuhe brauche ich nicht, das Telefon im Sand vergraben, muss
hier ja nichts haben…schaue aufs Meer und sehe den Wellen zu, wie sie an meinen
Zehen knabbern, wie die Ebbe die Flut ablöst und die Flut die Ebbe und alles
zusammenpasst. Ich will weg hier. Ich will wieder an die Nordsee. Ich muss
jetzt leider weiterschreiben, nicht an diesem Roman, nein, zuerst mal an meiner Bachelorarbeit. Ich träume einfach viel zu gern, träume mich weg.
Ich atme tief durch, tanke den abgestandenen Sauerstoff in
diesem Raum, setze mich kerzengerade hin und starre angestrengt auf mein bisher
eher dürftiges Werk. Na komm schon Jule, konzentrier‘ dich, du bist die
einzige, die unproduktiv ist. Denke es und lasse meinen Blick durch den
Lesesaal schweifen. Angestrengte Gesichter, gerunzelte Stirnfalten und Köpfe,
über Riesenwälzer gebeugt. Komisch, dass noch kein Qualm zu sehen ist. Wieso auch
muss ich den Lesesaal Recht als mein Wohnzimmer auserwählen, nur fleißige
Juristen hier. Wo die wohl herkommen, was die wohl erlebt haben, wo die wohl
hinwollen…ich höre geflüsterte spanische Wortfetzen hinter mir und muss
unwillkürlich an das verregnete Sevilla denken, an Fußbäder, an Tapas, an
Orangenbäume…qué pena, dass ich jetzt nicht einfach viva la vida kann. Ich
runzele ebenfalls die Stirn, schließe entschlossen den Ordner, in dem sich die
ganzen, mit Erinnerungen an andere Orte vollgeladenen Bilder befinden und mache
mich wieder an die Arbeit. Wie viel Uhr ist denn? 16:34 Uhr…20.Juni…Oh, schon bald
Ende Juni…oh, schon bald fliege ich.
Endlich, endlich weg hier! Ungeduldig rutsche ich auf meinem
Stuhl hin und her, der nicht bequemer werden will. Ich will, ich will weg hier!
Weg von dem Stress, dem täglichen Alltagstrott, den Leuten hier, von denen
viele in ihrer Sichtweise so eingeschränkt, in ihrer Meinung so festgefahren
sind. Flucht. Flucht nach vorne, Alltagsflucht. Ich habe mich gefragt, ob ich
mit meiner Reiselust denn vor etwas weglaufen will. Ob es mir hier nicht gut
geht, etwas schief läuft in meinem Leben. Aber nein, es passt alles, alles ist
an seinem Ort, nur ich bin nicht an meinem Ort. Denn ich habe keinen, will
keinen haben. Es läuft alles, läuft alles gut, läuft in geregelten Bahnen. Und
ich will eben ab und an und eigentlich manchmal auch oft daraus ausbrechen.
Will Loopings und Hopser und durchgeschüttelt werden. Ich hasse Achterbahn fahren,
mag auch keine krassen anderen Fahrgeschäfte, ich mag jedoch Kulturschocks. Ich
mag es, irritiert zu sein, weil ich das Verhalten anderer Menschen nicht
verstehe. Mag es, neue Traditionen und Sitten zu entdecken, neue Sprachen zu
lernen. Ich mag es, eine andere Welt kennenzulernen, unsere Welt, meine Welt
anders zu sehen. Und mich dann wieder neu einordnen zu müssen, neu
zurechtfinden, in dem, was zuvor vertraut war. Das kann anstrengend sein, ist
gleichzeitig unglaublich bereichernd. Horizont erweiternd.
Das ist das Problem mit dem Reisen. Es macht süchtig. Und
ich bin gerade auf Entzug und leide. Aber nicht mehr lange, dann bin ich wieder
weg! Und bis dahin tun es auch diese kleinen Alltagsträume, in denen ich mal
wieder an der Nordsee bin…und wo treibst bzw. träumst du dich rum? :)
Jule