Oder: Das Leben ist eine Sinuskurve
Da sitze ich stolz, throne wie eine Prinzessin auf dem
Einhorn und klammere mich an die kratzige Mähne. Meine Finger verkrampfen sich
fast in den rauen Borsten, ich bin aufgeregt, warte darauf, dass es losgeht.
Ein Grinsen kann sich nicht davon abhalten, mein Gesicht zu belagern, ich liebe
Karussellfahren, schon seit ich denken kann, vielleicht schon bevor ich laufen
konnte. Dieses Einhorn habe ich mir hart erkämpft, groß war die Konkurrenz,
aber selbst in meinem Kleidchen und mit meinen Lackschühchen war ich schneller
als das doch etwas dickliche Mädchen neben mir. Das sitzt auf einer knallgelben
Ente. Zufrieden mit meinem Sprint und meiner Wahl ziehe ich mir den letzten
Rest Zuckerwatte aus dem Mundwinkel und wische mir die klebrigen Finger am
Spitzensaum meines Kleids ab. Das mag ich eh nicht. Wieso auch muss mich meine
Mama immer in solche Dinger stecken? Besagte steht ein paar Meter von mir neben
der Kasse inmitten einer kleinen Menschentraube aus stolzen Müttern und winkt
mir mit der Kamera zu. Oh nee, keine Fotos. Darüber kann ich mir jetzt aber
keine Gedanken mehr machen, das Karussell setzt sich ruckartig in Bewegung und
nimmt Fahrt auf. Die bunten Farben um mich herum fangen an sich zu vermischen,
ergeben Streifen und Linien und es gibt nur mich auf meinem Einhorn, fast heben
wir ab, fast kann ich fliegen.
Höhenflug, leicht und unbeschwert. Das Leben ist aus
Zuckerwatte, süß und fluffig. Ich liebe solche Momente. Momente, in denen du
vergisst, wer du bist, weil du einfach bist, wer und wie du bist. Ohne dich
oder irgendwen oder irgendetwas sonst zu hinterfragen. Meistens checkst du gar
nicht, wie genial dieser Moment eigentlich war, weil du da einfach glücklich
warst. Der Moment hat dich eingepackt und eingewickelt, in Zuckerwatte
natürlich. Hat dich mitgerissen mit all seinen Farben und Gefühlen, rosa, bunt
und mit Glitzer natürlich. Keine Zeit nachzudenken. Sowas ist gigantisch. Und
passiert manchmal viel zu selten. Aber dann leuchtet diese eine Aufnahme deinen
Tag hindurch, manchmal Monate, manchmal kannst du dich dein ganzes Leben an
diesen einen Moment erinnern. Vermutlich weil er glitzert.
Das Karussell dreht sich immer schneller, ich gluckse vor
Freude und sehe nur noch Regenbögen, ganz, ganz viele, schließe die Augen und
sehe mich durch die Lüfte fliegen, unter mir endlose Wälder, saftig grüne Wiesen,
sanfte Hügel. Beinahe wird mir schwindelig, also blinzele ich kurz und öffne
meine Augen doch wieder, will schon fast meine Arme loslassen, ausstrecken,
doch da stoppt mein Einhorn plötzlich. Hä, schon vorbei? Verwirrt blicke ich um
mich und sehe, wie andere Kinder aus ihren Fahrzeugen und von ihren Flugtieren steigen
und auf ihre Mütter und Väter zulaufen. Tränen steigen mir in die Augen und
tropfen auf die weißen Borsten der Einhorn-Mähne. Das ging viel zu schnell
vorbei!
Tja, so ist das mit diesen Momenten. Man merkt erst
hinterher, dass man in diesem einen Augenblick glücklich war, dass man in
diesem einen Augenblick keine Sorgen hatte, sie vergessen hatte, seine Umwelt
vergessen hatte. Und wenn man sich dessen bewusst wird, ist man wieder auf dem
Boden der Tatsachen gelandet. Alltag. Weitermachen. Lernen. Termine.
Verpflichtungen. Das Rad dreht sich weiter, zu schnell manchmal für uns, wir
laufen mit. Hamsterrad. Laufen mit und stolpern manchmal, laufen schneller,
immer schneller, um Schritt halten zu können. Und die Zeit rast an uns vorbei,
ohne dass wir besonders glücklich oder besonders unglücklich sind. Ja, auch
solche Abschnitte gibt es, das Leben läuft in geregelten Bahnen, manchmal
schneller, manchmal langsamer, unspektakulär. Das kann gut sein, geordnet, gibt
Sicherheit. Aber pass auf, dass das Leben nicht an dir vorbeizieht! Sorge
dafür, dass du in deinem eigenen Tempo läufst. Dass du dich auch mal aus dem
fahrenden Zug lehnst, du musst ja nicht gleich springen. Aber ein bisschen
frischer Wind kann manchmal nicht schaden, pustet Sorgen weg, macht den Kopf frei.
Ein paar Jahre sind vergangen. Ich bin älter, größer, groß
genug, um mit der höchsten Achterbahn fahren zu dürfen. Und ich fühle mich doch
zurückversetzt, klammere mich an die Metallstange vor mir, panisch diesmal. Und
wünschte, sie wäre die Mähne eines Einhorns. Langsam, quälend langsam wird mein
Wagen nach oben gezogen. Wieso auch musste ich mich ganz vorne hinsetzen.
Dieses Mal bin ich nicht ganz so glücklich mit meiner Platzwahl. Es hat über 30
Grad, aber mich fröstelt, hier oben weht ein kalter Wind. Ich zwinge mich, nach
unten zu schauen, wo der Freizeitpark aussieht, als wäre er zum Spielen da und
die Menschen, als wären sie nur Playmobilfiguren. Da wirken die Wolken über mir
noch greifbarer. Schade, dass sie nicht rosa und aus Zuckerwatte sind, denke
ich mir gerade und bekomme nicht mit, dass wir den höchsten Punkt der
Achterbahn erreicht haben und mein Wagen nicht mehr gezogen wird. Ich bin nicht
darauf gefasst, in die Tiefe zu stürzen. Unerwarteter Fall.
Ich falle, falle tief und lande hart. Ich wusste es. Ich
wusste, dass es so kommen muss, irgendwann. Ich war darauf vorbereitet, dachte
ich. Und dann trifft es mich hart, härter als gedacht. Schmerzen, alles tut
weh, fast schon körperlich. Kann nicht mehr aufstehen. Lasst mich liegen. Das
ist mein Abgrund, mein eigener Graben. Ihr könnt mir nicht helfen. Ihr sollt
mir nicht helfen. Das hier ist meine Misere, ihr versteht mich nicht, fühlt
nicht so wie ich. Nackter, kalter Boden. Ich liege hier, starre ins Schwarze
und bin unfähig mich zu bewegen. Wie geht das?
Ein paar Monate sind vergangen. Ich bin nicht älter, nicht
größer, aber definitiv mehr ich. Und weiser natürlich, ich merke förmlich, wie
ich andere Menschen belächeln muss und mir vorstelle, dass meine Haare
eigentlich schon ergraut sein müssten. Spaß beiseite, oder vielmehr: Her mit
dem Spaß. Ich kann immer noch Kind sein, kann es wieder sein, immer wieder. Ich
kann mich um mich selbst drehen, kann mein eigenes Karussell und meine eigene
Sommersonne im Winter sein. Ich kann mich aus dem Fenster lehnen, weit, kann
springen und hoffen, dass mein aufgespannter Regenschirm den Fall bremst. Ich
kann stolpern und stürzen, weil ich weiß, dass es helfende Hände gibt. Hände,
die mich mitreißen, hochreißen, stützen, umarmen. Ich kann weinen und liegen
bleiben, ein bisschen, weil ich weiß, dass das dazugehört, dass nicht alles
Zuckerwatte ist. Ich kann traurig sein und gleichzeitig lächeln dabei, weil ich
weiß, dass es vorbeigeht, süßer schokoladiger Schmerz, der bei den nächsten Sonnenstrahlen
schmilzt. Und ich kann lachen, herzhaft, bis dass mir die Tränen kommen, am
besten über mich selbst. Weil es unglaublich befreiend ist und mir die
Absurdität des Lebens genug Impulse präsentiert. Nicht nur mir.
Auch dir, denn das Leben ist eine Achterbahn, es geht auf
und ab, das Leben ist eine Karussellfahrt, macht unglaublich viel Spaß und
dreht sich immer weiter, auch wenn es keinen Spaß macht. Das klingt ein wenig
platt und ist sicherlich keine neue Erkenntnis. Jedoch sollte man sich
besonders in den Situationen, die einem hoffnungslos erscheinen, daran
erinnern. Dass Tiefpunkte dazugehören und dass man an ihnen wachsen kann, egal
wie schrecklich und ausweglos sie zuerst erscheinen mögen. Die schmerzhaftesten
Lektionen sind immer die lehrreichsten. Zwei Schritte zurück bedeuten nicht
unbedingt Rückschritt. Stillstand bedeutet nicht unbedingt Sackgasse. Manchmal
braucht es einen Rückschlag, um uns zu zeigen, was wirklich wichtig ist, um uns
zu einer Pause zu zwingen oder um Kräfte zu entwickeln, die wir an uns oder
vielmehr in uns nie für möglich gehalten hätten und die es uns ermöglichen,
wieder aufzustehen und wieder Fahrt aufzunehmen. Immer schneller, kraftvoller
als zuvor, bis zum nächsten Höhenflug. Der ist dann umso schöner,
vergleichsweise. Vielleicht auch länger, kommt auf die Einhornrasse drauf an. :)
Jule